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27 Länder, 27 Bücher

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Die Europäische Union vereint 27 Länder. Dennoch lesen wir zu einem großen Teil Autor*innen und Texte aus dem deutsch- oder englischsprachigen Raum. Wir haben Bücher aus jedem Mitgliedstaat gesammelt. Kein Land lässt sich auf einen Roman oder einen Gedichtband reduzieren. Diese Liste ist eine Einladung, die Komfortzone zu verlassen und die Vielfalt der europäischen Literatur zu entdecken.

Belgien: „Und es schmilzt“, Lize Spit (Fischer, 2017)

Ein Jahr lang schreibt die junge Belgierin Lize Spit fast 16 Stunden pro Tag an ihrem Debütroman. Am Ende braucht sie zwar eine Brille, aber hat eine 480 Seiten starke Explosion geschaffen, die im ersten Verlagsprogramm von Das Mag erscheint. Het smelt erzählt von einer Frau, die mit einem Eisblock im Kofferraum an den Ort ihrer Kindheit zurückfährt. Nach und nach entschlüsselt sich, warum – und heftiger könnte der Grund gar nicht sein.

Bulgarien: „Physik der Schwermut“, Georgi Gospodinov (Droschl, 2014)

Dieses Buch ist Roman, Sachbuch, Fragment, Märchen: Es erzählt vom Wert des Erinnerns, von altgriechischen Mythen, von Empathie, bulgarischem Kommunismus und dem Drang des Festhaltens und des Schreibens. Der einzige Anlass, es zur Seite zu legen: um selbst zu schreiben.

Dänemark: „Rose werden“, Olga Ravn (Nord Verlag, 2020)

Den besonderen Nord Verlag und seine Gründerin Camilla Zuleger haben wir an dieser Stelle schon einmal vorgestellt. Seine neueste Publikation Rose werden schließt an den Lyrikboom in Skandinavien an, den Zuleger nach Deutschland bringen will. Autorin Ravn sagt, ihr Gedichtband sei ein “Heartbreak-Buch über die totale und herzzerreißende Einsamkeit”. Bildgewaltig.

Deutschland: „Herkunft“, Saša Stanišić (Luchterhand, 2019)

Saša Stanišić, der, so sagte er es in seiner Rede zur Verleihung des Deutschen Buchpreises 2019, „das Glück hatte, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt“, ist nicht erst mit Herkunft nicht mehr aus der deutschsprachigen Literaturlandschaft wegzudenken. Seine Romane sind von unglaublicher Sprachmacht, voller Witz und Traurigkeit, Magie und Realismus. Er erzählt von Bosnien, von Deutschland, von Heimat und dem Verlorensein. Wer Stanišić noch nicht kennt, sollte das unbedingt ändern.

Estland: „Zwischen zwei Tönen. Aus dem Leben von Arvo Pärt“, Joonas Sildre (Voland&Quist, 2021)

Das Leben des berühmtesten estnischen Komponisten in einer Graphic Novel. Sildre erzählt von der Kindheit im von Russland okkupierten Estland, der rastlosen Suche nach einer eigenen Musiksprache, der Politisierung von Kunst und Religiösität.

Finnland: „Fegefeuer“, Sofi Oksanen (KiWi, 2010)

Die finnisch-estnische Autorin Sofie Oksanen hat mit ihrem dritten Roman Fegefeuer große internationale Erfolge gefeiert. Sie erzählt darin die Geschichte zweier Frauen: die junge Zara, die verwahrlost Unterschlupf sucht und die Witwe Aliide Truu. Die beiden verbindet mehr als Aliide zunächst denkt. Der Roman dreht sich um Schuld, familiäre Traumata, Macht und Brutalität. Das Schicksal zweier Frauen, zweier Generationen spiegelt sich im Schicksal finnisch-estnischer Geschichte.

Frankreich: „Rückkehr nach Reims“, Didier Eribon (Suhrkamp, 2016)

Die Rückkehr nach Reims ist ein politisch höchst brisantes Buch. Präzise analysiert der Soziologe und Autor Didier Eribon anhand seiner eigenen Biografie Klassenbewusstsein und soziale Herkunft, geht der Frage nach, warum die Linke das Milieu der Arbeiter*innen mehr und mehr an die politische Rechte verliert und reflektiert Phänomene der Homophobie und des Rassismus im Spiegel der Klassenverhältnisse.

Griechenland: „Kassandra and the Wolf“, Margarita Karapanou (Harcourt Brace Jovanovich, 1976)

1976 veröffentlicht, ist Kassandra and the Wolf bereits ein zeitgenössischer Klassiker der griechischen Literatur, der seine junge Autorin zum Shooting Star machte. Erzählt wird die Kindheit der kleinen Kassandra, die in einer schrägen Familie aufwächst und über den Chauffeur Bezug zur Außenwelt findet. Verglichen wurde die Autorin bereits mit Proust und Schulz.

Irland: „Gespräche mit Freunden“, Sally Rooney (Luchterhand, 2019)

Die Studentinnen Frances und Bobbi treffen das etwas ältere Ehepaar Melissa und Nick. Man fühlt sich zueinander hingezogen und lotet die Grenzen zwischen Affäre und freundschaftlichem Flirt aus. Ein Roman voller Leichtigkeit über das Jungsein, über Freundschaft, Sex, Literatur und Politik.

Italien: „Chirú“, Michaela Murgia (Wagenbach, 2017)

Die deutsche Übersetzung von Murgias Erstling Accabadora wurde bereits 150.000 mal verkauft. Ihr letzter Roman Chirú beginnt ebenfalls in Sardinien, die Handlung verteilt sich dann aber über ganz Europa. Chirú erzählt die Geschichte der berühmten Theaterschauspielerin Eleonora, die den zwanzig Jahre jüngeren Musikstudenten Chirú unter ihre Fittiche nimmt.

Kroatien: „Die Reparatur der Welt“, Slobodan Šnajder (Zsolnay, 2019)

Slobodan Šnajder erzählt in einem fulminanten Roman die Geschichte einer Familie im 20. Jahrhundert. Es ist ein Buch über den Krieg und Gewalt, über die Geschichte der Volksdeutschen in Jugoslawien, über Partisanen, Ideologie und Liebe.

Lettland: „Doom 94“, Jānis Joņevs (Wrecking Ball Press, 2018)

Der Roman ist in der lettischen Heavy Metal Szene der 1990er Jahre angesiedelt. Während Lettland seine gerade erlangte Unabhängigkeit feiert, sucht eine junge Generation nach alternativen Lebensentwürfen, Subkultur und sich selbst. Bislang gibt es leider keine deutsche Übersetzung. Eine englische ist aber bei Wrecking Ball Press erschienen.

Litauen: „Fische und Drachen“, Undiné Radzevičiūtė (Residenz, 2017)

Zwei Kulturen treffen in diesem Roman aufeinander: das christliche Europa und das traditionelle China. Er erzählt einerseits die Geschichte eines jesuitischen Malers im China des 18. Jahrhunderts, anderseits vom Leben dreier Frauen, die in Chinatown einer europäischen Stadt unserer Gegenwart wohnen. Die Geschichten sind eng miteinander verwoben.

Luxemburg: „Larven“, Nora Wagener (Conte, 2017)

Larven ist ein Erzählband, für den die junge Autorin bereits mit dem Prix Servais de littérature luxembourgeoise 2017 ausgezeichnet wurde; der große englischsprachige Verlag Dalkey Archives übertrug die Kurzgeschichte Dann hätte ich auch Larven in die Anthologie Best European Fiction 2018. Die Geschichten sind ungewöhnlich und erzählen vom mal mehr mal weniger guten Funktionieren zwischenmenschlicher Kommunikation.

Malta: „Having said goodnight“, Pierre J. Mejlak (Merlin, 2015)

Pierre J. Mejlak hat als Journalist unter anderem für BBC gearbeitet und schreibt bereits seit seiner Jugend Romane und Kurzgeschichten. Having said goodnight, für den er mit dem EU Prize for Literature 2014 ausgezeichnet wurde, ist noch nicht ins Deutsche übersetzt worden, Ich war bei ihr, Papa und In Livias Bar allerdings schon. Der Malteser schreibt nicht nur, sondern ist auch EU-politisch hochengagiert und lebte längere Zeit in Brüssel.

Niederlande: „Was man sät“, Marieke Lucas Rijneveld (Suhrkamp, 2019)

Mit nicht einmal 30 Jahren und als erste nicht-binäre Person hat Marieke Lucas Rijneveld bereits den International Booker Prize 2020 erhalten – zu Recht. Rijneveld erzählt von der zehnjährigen Jas, die sich wünscht, ihr Bruder würde statt des Kaninchens sterben – am nächsten Tag bricht der im Eis ein und ertrinkt. Was man sät hat einen düsteren Sog und kein Erbarmen.

Österreich: „Die Hauptstadt“, Robert Menasse (Suhrkamp, 2017)

Es ist der europäische Roman, ein Roman über EU-Bürokratie, über die Kommision, über Brüssel, über Europas Geschichte. Er ist aber auch eine Bestandsaufnahme der europäischen Gemeinschaft und ihrer Fehlbarkeiten, ein Krimi und Gesellschaftssatire. Kurz: Robert Menasse hat einen äußerst unterhaltsamen und klugen Roman über das Projekt Europa geschrieben.

Polen: „Unrast“, Olga Tokarczuk (Kampa, 2021)

Die polnische Nobelpreisträgerin war 2019 im Peter-Handke-Trubel zu Unrecht untergegangen. Ihre Prosa ist sprachgewaltig, vielseitig und vor allem eben rastlos. In Unrast geht es ums Unterwegssein, um die ziellose Suche, die Heimatlose, Kosmopoliten, Wanderer und Forscher gemein haben. Es geht um die ewige Bewegung zwischen Ländern, Grenzen, Zuständen, Kontinenten, um’s Nicht-Stillstehen-Können, schlussendlich um die Entdeckung der Welt, in der man sich selbst entdeckt.

Portugal: „Neue Portugiesische Briefe“, Maria Velho da Costa, Maria Isabel Barreno und Maria Teresa Horta (edition tranvía, 1995)

Drei Frauen schreiben in Briefen, Gedichten und Prosatexten über die Unterdrückung der portugiesischen Frau und sorgten damit für einen der größten Literaturskandale der 1970er Jahre. Die Themen reichen von Sexualität und Ehe über allgemeine Erfahrungen von Machtverhältnissen bis hin zu Diktatur und Kolonialismus. Heute gelten die „drei Marias“ als literarische Vorbotinnen der Neuen Frauenbewegung.

Rumänien: „Solenoid“, Mircea Cartarescu (Zsolnay, 2019)

2015 erhielt Cartarescu den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, im selben Jahr gewann er auch den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Grund genug also, sich Solenoid einmal genauer anzuschauen: Der Roman gilt als sein Opus Magnum und erzählt von der Hyper-Fantasiemaschine Solenoid.

Schweden: „Der Ursprung der Welt“, Liv Strömquist (avant, 2017)

Die Graphic Novel der schwedischen Autorin zeichnet die Kulturgeschichte der Vulva nach und hat mittlerweile vor allem in feministischen Kreisen Kultstatus. In Form von graphischen Essays werden patriarchale Sichtweisen auf das weibliche Geschlechtsorgan dekonstruiert, Montagen aus historischem Material und Illustrationen zeigen die männliche Konstruktion der Vulva auf.

Slowakei: „Café Hyena“, Jana Beňová (Residenz, 2017)

Vier Freunde leben in Petrzalka, der großen Plattenbausiedlung bei Bratislava. Über die Brücke kommen sie täglich in die Stadt, um dort im Café Hyena zu schreiben und zu diskutieren. Auch wenn das restliche Leben zusammenzubrechen droht, bleibt der Traum des Cafés als Hoffnung. Der Roman wurde 2012 mit dem EU Prize for Literature ausgezeichnet, die deutsche Übersetzung ist bei Residenz erschienen.

Slowenien: „Brombeerenhimmel“, Nataša Kramberger (bisher noch keine deutsche Übersetzung)

Das Buch, für das Nataša Kramberger den EU Prize for Literature 2010 erhielt, hat einen Titel, der nicht nur schön klingt, sondern bereits auf die besondere Form hinweist: In einzelnen Geschichten wird von der jungen Slowenin Jana erzählt, die vom Land in die niederländische Großstadt zieht – dort trifft sie auf Bepi, einen alten italienischen Fischermann, der viel erlebt hat. Unvorhersehbar.

Spanien: „Canto jo i la muntanya balla“, Irene Solà (Granta, vorauss. 2021)

Der Titel verrät es schon: Irene Solà schreibt nicht auf Spanisch, sondern auf Katalanisch. Für den Roman erhielt sie voriges Jahr den EU Prize for Literature, der sich einreiht in eine lange Liste aus Aufenthaltsstipendien und Preisen. Das Buch, das bisher leider noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, versammelt Kurzgeschichten, bei denen die Grenze zwischen Realem und Fiktion verschwimmt.

Tschechien: „Winterbergs letzte Reise“, Jaroslav Rudiš (Luchterhand, 2019)

Winterbergs letzte Reise ist ein Roman des tschechischen Autors Jaroslav Rudiš, der aber auf Deutsch erschienen ist. Der Altenpfleger Jan Kraus begleitet Wenzel Winterberg auf seiner letzten Reise. Sie führt die beiden durch eine vergangene Welt, das Mitteleuropa des 19. und des 20. Jahrhunderts, durch Erinnerungen, Geschichte und vergessen geglaubte Traumata. Berlin, Prag, Reichenberg, Budapest. Der Roman entwickelt ein beeindruckendes Panorama von Vernetzungen mitteleuropäischer Geschichte mit der individuellen Erfahrung.

Ungarn: „Das Ungeheuer“, Terézia Mora (Luchterhand, 2013)

Nachdem sich die Frau des Protagonisten Darius Kopp das Leben genommen hat, reist er nach Ungarn, den Ort, an dem sie aufgewachsen ist. Stück für Stück erfährt er durch Tagebucheinträge von ihrem Leben und Leiden. Eine bittere, tieftraurige und dennoch wunderschöne Liebesgeschichte.

Zypern: „An album of stories“, Antonis Georgiou (bisher noch keine deutsche Übersetzung)

Dieses Geschichtsalbum versammelt mosaikartig Fragmente eines ganzen Landes und seiner Menschen – so sieht es der EU Prize for Literature, den Georgiou 2016 erhielt. Die Geschichten sind teilweise alt, teilweise im Dialekt geschrieben, teilweise begleitet von Rezepten oder Kinderzeichnungen – beeindruckende Vielfalt in einem Buch!


Dieser Liste fehlt viel. Um alle Texte aufnehmen zu können, die wir gerne dabei hätten, fehlt einfach der Platz. Wir laden euch daher ein, eure liebsten Bücher quer durchs europäische Gemüsebeet mit uns zu teilen. Postet ein Foto der Romane, Erzählungen, Gedichtbände auf Instagram unter dem Hashtag #wolfgangliesteuropa, in euren Stories (nicht vergessen wolfgangmagazin zu taggen) oder schickt uns eine Nachricht. Wir freuen uns auf euren Input!

Wer neugierig geworden ist und noch weiter durch die vielfältige und bunte europäische Literaturlandschaft stöbern möchte, findet beim EU Prize for Literature Inspiration.

Schreibt, seit sie sich erinnern kann. Stationen in Leipzig und Kopenhagen (Philosophie, Kultur und Film). Literaturwissenschaftlerin.

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