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Tyll tut #22 – Berlin

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In dieser Kolumne wird unser Redakteur Tyll Leyh erwachsen. Das ist zumindest der Plan. Er probiert Hobbys, scheitert und liefert dabei Einblicke in sein Seelenleben. Diesen Monat gibt es nur ein Thema für ihn: Erasmus+.

Es ist Anfang Oktober und die Stimmung ist angespannt grau, nasskalt und es wird immer dunkler, während wir nur einmal kurz in die falsche Richtung fahren, bevor wir ankommen. In Berlin Friedrichshain, der erste kurze Besuch, um den nächsten nur halb durchdachten Lebensabschnitt anzubrechen. Also weg vom langweilig vor sich hin funktionierenden Süden hinein in die gelebte Gleichzeitigkeit der Hauptstadt. So aufregend wie bekannt wohl mein Gedanke dabei. Warum das nun genau diesen Herbst sein muss, habe ich vergessen oder verdrängt. Dachte ich zumindest…

Berlin

Das Prinzip der Hauptstadt ist, dass alle sehr nah beieinander nebeneinander leben und sich dabei ignorieren. Ich finde das großartig. Kaum zehn Minuten da, bekomme ich eine Grundgleichgültigkeit gegenüber der Reizüberflutung. Da ein Obdachlosencamp, hier spitzenmäßig gekleidete Leute und dazwischen die übliche Aneinanderreihung von Großstadtklischees. Dann die Anti-Corona-Demos, und als wir grad da sind ganz aktuell 1500 Polizist*innen, die 50 Besetzer*innen vorm Winter obdachlos machen, weil sie leider nur 29 Jahre, und nicht 30, dort wohnen. Inzwischen jedoch schon wieder etwas vergessen und archiviert als ein Beispiel mehr für gescheiterte Wohnungspolitik, Gentrifizierung und Ungerechtigkeiten, mit denen sich solidarisiert wird, bevor sich wenig ändert. 

Da möchte ich sein? 

Klar, denn die Stadt ist kanalisierter Diskurs und Schlaglicht der Aufmerksamkeit. Hier werden die Konflikte stellvertretend für den Rest von Deutschland ausgetragen. Dazwischen ein wenig Disfunktionalität, zur einen Hälfte wirklich und zur anderen zur Verstärkung herbeifantasiert, um dem Bild als crazy belächelter Gegenpol für den Rest von Deutschland gerecht zu werden. Mittendrin, so wird gesagt, dann noch unfreundliche, übellaunige Menschen, soziale Verrohung, hippe Partypeople und ich. Denn ich wäre auch gerne Teil davon, würde nur noch schwarz tragen und die ganzen Skills, die ich in Wien beim Granteln gelernt habe, auch mal in der realen Welt testen. 

Warum?

Es passiert etwas dort! Das ist das Wichtigste. Endlich! Da reicht es schon aus, ein wenig umherzulaufen und schon steht die ganze Straße voll mit Streifenwagen, beiläufig hört man dann von Brandanschlägen auf Signal- und Kommunikationskabel der S-Bahn, kurz bevor dann die ganze Bahngewerkschaft streikt. Wir laufen weiter und kommen an ausgebrannten Autos vorbei, im Späti kann man witzige Gespräche belauschen und wir stehen am Bahngleis und werden aufgefordert, die Polizei zu holen, einfach so, weil jemand beim Taschendiebstahl erwischt wurde. 

Er wird auch festgehalten von einem schreienden Mann. 

In drei Tagen hatte ich nur einen Termin und hab mich trotzdem super produktiv gefühlt, allein schon durch zwei Stunden gestresst S-Bahn fahren, nur um dann zu spät zu sein: gelebte Gleichzeitigkeit als schöneres Wort für Schienenersatzverkehr. Da gewöhne ich mich dran, denke ich mir, während ich mit Ticket und Semesterkarte aus dem Termin wieder hinauslaufe und mir so sicher bin, hier den Herbst zu verbringen,. Nur noch so kleine Hürden wie Zimmer oder Job müssen überwunden werden. 

Anstrengend.

Also setze ich mich hin und verwende viel zu viel Zeit dafür. Ich ballere einen WG-Gesucht-Text nach dem anderen raus und bin dann doch genervt davon, dass wenig Rückmeldung kommt. Aber dann behalt doch dein „schönes Zimmer in Moabit“ Torsten, da will doch eh niemand wohnen! Ich will hier wieder an Gesellschaft teilhaben, hin und wieder unvernünftig sein, und dass das akzeptiert wird. Also fließt noch mehr Energie in das Projekt, dem Herbst noch mehr Bedeutung zu geben, zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Aber gut, wenn alles stillsteht, dann doch da, wo es wenigstens trotzdem immer ein bisschen weiter geht und zusammen kommt.

Es ist die Suche nach Aufregung in diesem öden Lockdownjahr, wo alles so gleichmäßig seinen Gang geht, während ich viel zu oft meine Emails aktualisiere. Dann, gerade in dem Moment, in dem alles geregelt ist und endlich alles Sinn macht und der Existenz dort nichts mehr im Weg steht, … 

… ist drei Wochen später. 

Die tausend Polizisten, die von der Räumung übrig geblieben sind, kontrollieren nun die Maskenpflicht. 15 000 neue Ansteckungen hier, Lockdowndrohung dort. Ich werde immer unruhiger.

Also stellt sich die große Frage, wird die nächste Folge spannend und Tyll tut #23 alte Freunde treffen oder doch etwas Langweiliges, wie daheim leise Techno hören, Gemüsekebab essen und an jenes denken, was gewesen wäre, wenn… 

 

Erfolgserlebnisse:  Yes, endlich Vorstellungsgespräch! 7/10 

Macht fit und belastbar: Letzte Frage im Vorstellungsgespräch: „Warum bleiben Sie nochmal nicht da, wo sie gerade sind?“ 8/10

Fühlt sich nach Arbeit an: Sich von der besten Seite zeigen:  „Ne ne, ich bin Nichtraucher und sehr sehr ordentlich!“ 8/10 

Preislich skalierbar: Wenn nicht da, wo sonst? 8/10

Spaß: Mal so mal so.. 7/10

Gesamt: 38/50

Ich weiß auch nicht, wie man das schreibt.

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