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Wenn Athleten zu Skeletten werden – Anorexie im Klettersport

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Alle gehen bouldern. Die Popularität des Trendsports spült eine seiner dunklen Seiten wieder an die Oberfläche: Essstörungen und ihre brutalen Folgen. Diese betreffen Profis, aber auch der Breitensport bleibt davon nicht verschont.

Klara ist 35. Sie klettert seit zehn Jahren. Seit der Pandemie nimmt sie den Sport richtig ernst. Sie klettert mehrmals die Woche in der Halle, am Wochenende outdoor und trainiert zusätzlich. Durch das Training nimmt sie Muskelmasse zu und wird schwerer.

Währenddessen sieht sie, wie eine ihrer Freundinnen, die 20 Kilo weniger wiegt und sehr viel kleiner ist als sie, viel schwierigere Routen klettert. Sie selbst fühlt sich nicht wie eine Kletterin. In ihrem Kopf müssen Frauen, die klettern, schlaksig und schmal sein. Sie hört von anderen Kletterern Sätze wie „Du bist auch nicht die Leichteste und kletterst trotzdem gut.“

„Ich habe mir gedacht, wenn ich so leicht bin wie früher, dann klettere ich bestimmt viel besser. Dann habe ich angefangen Kalorien zu zählen.“

Ganz falsch ist Klaras Gedanke auch nicht. An der Spitze des Klettersports geht es oft darum, sein ganzes Körpergewicht mit einer Hand auf einem Griff zu halten. Diese stehen oft nur so weit von der Wand ab wie ein schmaler Bilderrahmen. Dass dabei Körpergewicht eine Rolle spielt, ist eine physikalische Realität, die sich nicht leugnen lässt. Während Kraftaufbau und ein Stärken der feinen Fingersehnen oft Monate oder Jahre dauern kann, führt Gewichtsverlust für Athlet*innen und Hobbysportler*innen häufig zu schnellen Leistungsverbesserungen. Diese sind jedoch oft trügerisch.

Klara reduziert ihre tägliche Zufuhr auf 1800 Kalorien. Das klingt im ersten Moment ausreichend, wenn man aber bedenkt, dass sie sechs Mal die Woche Sport macht und zusätzlich noch Ausdauertraining betreibt, ist das sehr wenig. Für die nächsten neun Monate isst sie nie wesentlich mehr als das.

Anorexia nervosa oder Magersucht ist im gesellschaftlichen Bewusstsein als ernstzunehmende Krankheit angekommen. Die Sonderform Anorexia Athletica, die Sportler*innen betrifft, ist weniger bekannt. Sie zeigt andere Symptome und wird oft weniger gut erkannt. Außerdem entsprechen die Betroffenen oft einem Körperbild, das als fit und gesund wahrgenommen wird. Trotz deutlich ausgeprägter Muskulatur sind sie aber stark unterversorgt.

Anorexia Athletica ist dabei keine anerkannte Essstörung, wie Psychologe und Kletterer Bruno Amanshauser betont. „Um als anorektisch (anorexia nervosa) im medizinischen Sinn zu gelten, muss der*die Patient*in einen BMI von 17,5 oder weniger selbst herbeigeführt haben und weiter abnehmen wollen. Außerdem haben Menschen mit Anorexie starke Angst dick zu werden, auch wenn sie sehr dünn sind. Aber es gibt im Klettersport viel ungesundes Verhalten, das nicht unbedingt eine Krankheit ist.“ Nach dieser Definition ist Klara nicht von einer Essstörung betroffen.

Nach einigen Monaten Diät bemerkt Klara aber, dass etwas mit ihrem Körper nicht stimmt. Sie ist ständig müde, antriebslos, wacht schweißgebadet auf und trotzdem ist ihr andauernd kalt. Außerdem fällt ihr auf, dass sie beim Klettern ein Plateau erreicht, das sie nicht überwinden kann. Bei einem Frauenarzttermin spricht sie an, dass ihre Menstruation unregelmäßig, etwa alle 50 Tage, einsetzt. Die Ärztin verordnet einen Hormontest – es stellt sich heraus, dass sie einen starken Östrogenmangel hat. Klara sagt der Ärztin, dass sie viel Sport macht, nicht aber, dass sie Kalorien reduziert, das ist ihr peinlich. Die Ärztin meint, dass es nicht am Sport liegen könne, da Bouldern kein Ausdauersport sei. Ein anderer Frauenarzt sagt Klara, dass sie ja ein völlig normales Gewicht habe.

Klara beginnt zu recherchieren und stößt auf RED-S.


RED-S (Relative Energy Deficiency Syndrome in Sports) beschreibt ein komplexes Bündel an Symptomen, die durch Übertraining in Kombination mit Kalorienrestriktion auftreten. Darunter fallen Depressionen, Kraftlosigkeit, das Ausbleiben der Regelblutung und verringerte Knochendichte, die zu Osteoporose führen kann. RED-S ist bei Männern schwerer zu erkennen und deswegen schlechter erforscht. Ein frühes Anzeichen, vor allem bei jüngeren Athleten, kann ein Ausbleiben der morgendlichen Erektion sein. Auch normalgewichtige Menschen können von RED-S betroffen sein.


Obwohl sie niemand diagnostiziert, beschließt Klara auf den Verdacht hin, von RED-S betroffen zu sein, mehr zu essen. Anfangs fällt es ihr schwer. Sie fragt sich oft, ob diese oder jene Mahlzeit in Ordnung sei. „Für Menschen, die von Essstörungen betroffen sind, ist essen oft eine Quälerei“, sagt Psychologe Bruno Amanshauser,

Klara findet nach wie vor, dass sie zu schwer ist, um Kletterin zu sein. „Aber mein Zugang ist jetzt einfach: Mein Körper muss so aussehen, wie er aussieht, damit er gesund ist und ich finde mich damit ab. So bin ich und das ist OK so.“ Klara meint, dass ihr verzerrtes Körperbild auch darin gründet, dass ihr positive Vorbilder fehlen.

„Meine Vorbilder sind alle sehr schlank, aber es gibt auch Ausnahmen, die eine Statur haben wie ich. Ich vergesse oft, dass die Kletterinnen, die ich verfolge, alle jünger sind und vor allem Profis. Ich will stark klettern und die, die stark klettern, sehen anders aus als ich. Auch in der Halle sind die Frauen, die stark klettern, sehr schlank. Aber vielleicht seh‘ ich auch nur die.“

In den letzten Jahren hat sich die Diskussionskultur um Essstörungen im Klettersport verändert. Während in den 80er und 90er Jahren Felskletter-Machos für ihre ausschließlich aus Bier und Zigaretten bestehenden Diäten, denen sie ihre Erfolge zuschrieben, gefeiert wurden, hat zuletzt eine Aufarbeitung des Problems begonnen. Einige Athlet*innen sprechen offen über vergangene Essstörungen, so etwa die serbische Top-Boulderin Staša Gejo. Sie ist Teil der Athletes Commission des internationalen Kletterverbandes IFSC und fordert verpflichtende Schulungen für Athlet*innen und härtere Sanktionen für jene, die die BMI-Grenzen unterschreiten.

Aktuell schickt die IFSC nur einen Brief an den jeweiligen Landesverband, weitere Konsequenzen soll dann der Landesverband ziehen. In Österreich gibt es im Gegensatz zu vielen anderen Ländern eine Sperre, wenn die Athlet*innen zu leicht für ihre Körpergröße sind. In den meisten Ländern gibt es aber kaum Folgen. Vermutlich, weil betroffene Athlet*innen teilweise sehr erfolgreich sind. Eine aktuelle Untersuchung zeigt, dass 16 % der weiblichen IFSC Kletterinnen keine Menstruationsblutung haben. Eine andere Untersuchung stellt fest, dass 6,5 % der männlichen und 16 % der weiblichen Profikletter*innen von Essstörungen betroffen sind.

Ausgelöst wurde die Debatte über Essstörungen im Klettersport von der Dokumentation “LIGHT”, der amerikanischen Fotografin und Filmemacherin Caroline Treadway, in der Athlet*innen erstmals offen über ihre Erfahrungen sprachen.

Auch die offizielle Seite des Sports erkennt das Problem an. Der aktuelle Chef der IFSC Medical Comission Eugen Burtscher schreibt in einem Blogpost aber: „Ich denke, es wird noch ein bis zwei Jahre dauern, bis da im großen Stil etwas passieren wird.“ 

Auf die Frage, was sie von einer härteren BMI-Grenze im Leistungssport hält, antwortet Klara: „Grundsätzlich ist es wichtig, dass etwas passiert. Ich denke, dass der BMI aber einfach nicht das einzige ist. Ich hatte nie einen zu niedrigen BMI und habe trotzdem nicht schlafen können, bin schweißgebadet aufgewacht, ständig Hunger, mir war andauernd kalt.“

Mittlerweile hat sich Klaras Menstruation wieder normalisiert. Sie isst viel mehr und hat auch zugenommen: „Ich klettere jetzt viel besser, habe mehr Energie und bin wesentlich stärker.“ Das bestätigt auch Psychologe und Kletterer Bruno Amanshauser: „Für die allermeisten Kletter*innen empfiehlt sich: Werdet stärker! Das ist langfristig wesentlich nachhaltiger als abzunehmen.“

Klara meint, es muss sich auch in der Diskussionskultur der Community etwas ändern. „Ich finde, Leute sollten sich Kommentare über die Körper anderer Menschen einfach ersparen. Das braucht keiner. Außerdem sollten wir das Thema auch viel offener besprechen. Seit ich das tue, fällt mir auf, wie viele andere auch Probleme damit haben. Ich spreche mit Freundinnen und viele erzählen mir, dass sie ihre Tage auch lang nicht gehabt haben.“

Viele Athlet*innen scheinen verstanden zu haben, dass Aufklärung essentiell ist. Immer mehr melden sich zu Wort, so auch die wohl beste Wettkampfkletterin aller Zeiten, Janja Garnbret. Sie sieht den Sport am Scheideweg.

This is definitely the biggest problem in our sport right now. We have to ask the question to ourselves. What kind of message do we want to send to others? Do we want to raise the next generation of skeletons?

Je mehr Menschen klettern, desto größer ist auch die Verantwortung, die die Community trägt. Profis, Institutionen und nicht zuletzt Amateur*innen müssen zusammenarbeiten, um dem Sport eine Zukunft abseits der Gewichtsobsession zu geben.


Wenn du betroffen bist oder jemanden kennst, der*die betroffen sein könnte, kannst du hier Hilfe finden.

Titelbild: (c) yns plt/unsplash.com

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