Erzähl mir von Antakya – Ein Monat nach dem Erdbeben

Am 6. Februar erlebten die Türkei und Syrien eines der schwersten Erdbeben ihrer Geschichte. In den darauffolgenden Wochen bangten auf der ganzen Welt Menschen mit Wurzeln in den Erdbebengebieten um ihre Angehörigen – so auch Dilek aus Wien. Einen Monat nach dem ersten Beben hat sie mit wolf*gang über ihre zweite Heimat Antakya gesprochen, über Hilfe aus der Ferne und vor Ort.

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WOLF*GANG: Deine Eltern kommen aus Antakya in der türkischen Provinz Hatay. Du selbst bist in Wien aufgewachsen, aber hast bis 2019 jeden Sommer in Antakya verbracht. Die Gegend wurde im Februar stark vom Erdbeben zerstört. Wie geht es deinen Freund*innen und deiner Familie vor Ort?

DILEK: Den Umständen entsprechend gut. Mein Cousin ist sofort nach dem ersten Beben aus London angereist und hat unsere Verwandten und einige ihrer Nachbarn abgeholt und in Hotels in Antalya untergebracht. Andere Freunde und Nachbarn haben die Stadt nicht verlassen. Sie wollen das nicht. Denen geht es natürlich schlechter als jenen, die weg sind. Das liegt daran, dass sie teils kein Trinkwasser und keine Zelte haben. Die Leute sind immer noch in ihren Wohnungen, die eigentlich nicht sicher sind. Natürlich haben sie Angst, die Häuser wieder zu betreten, andererseits sind sie dazu gezwungen.

Woran liegt es, dass die Menschen ihre Häuser nicht verlassen wollen oder können?

Die neu errichteten Container- und Zeltstädte sind weit weg von den Dörfern und Stadtzentren, in denen die Menschen davor gelebt haben. Viele wollen ihre vertraute Umgebung nicht verlassen. Das passt nicht zur demografischen Struktur Hatays.

Du spielst darauf an, dass in Hatay bzw. Antakya viele ethnische und religiöse Minderheiten leben: Alevit*innen, arabische Alawit*innen, griechisch-orthodoxe und katholische Christ*innen, es gibt jüdische Gemeinden, das letzte armenische Dorf der Türkei liegt in Hatay…

Hatay ist in der ganzen Türkei dafür bekannt, dass dort sehr viele Minderheiten zusammenleben, in Frieden und Harmonie. Das hat die Stadt immer ausgemacht. Gerade diese Minderheiten wollen ihre Häuser nicht verlassen, aus Angst, dass ihnen das Letzte genommen wird, was ihnen noch bleibt: ihr Grund und Boden. Sie haben Angst, dass ihre Wohnungen und Dörfer „besetzt“ werden oder dass sie vertrieben werden. Ob diese Angst begründet ist, kann ich nicht beurteilen, aber sie ist da. Diese Menschen haben das Gefühl, dass sie in keiner anderen Stadt der Türkei so leben können, wie sie es in Hatay getan haben. Dort wurden zum Beispiel alle religiösen Feste gemeinsam gefeiert: Ostern, Ramadan, Chanukka, Gadir Hum (ein Fest der Alawiten)… Die Sorge besteht, dass diese gemeinsamen kulturellen Gebräuche an einem anderen Ort verloren gehen. Deshalb wollen die Menschen Zelte direkt vor ihren Häusern aufstellen, anstatt umzusiedeln.

Gibt es in der Türkei Organisationen oder Gruppen, die versuchen, sich für diese Minderheiten bzw. den Erhalt des Zusammenlebens in Hatay einzusetzen?

Es gibt einige freiwillige Organisationen, die sich aber nicht unbedingt auf die Minderheiten fokussieren. Auf Instagram teilt zum Beispiel der Account @buradayizhatay (Wir sind hier, Hatay) Geschäfte, die noch offen haben und Dienstleistungen, die noch angeboten werden. So können sich die Leute untereinander vernetzen, die die Stadt nicht verlassen haben. Die katholischen und orthodoxen Vereine – aber auch alevitische Vereine – aus Deutschland, weniger aus Österreich, sind sehr gut mit Leuten vor Ort vernetzt. Auch die deutsche Stadt Aalen, die Partnerstadt von Hatay, unterstützt sehr viel. In einem christlich-orthodoxen Dorf hat der Verein Seh-Hanna selbst Geld gesammelt – und konnte damit das Dorf, aber auch andere Teile Hatays unterstützen. Dort fehlt es jetzt an nichts. Natürlich sind die Häuser auch teilweise kaputt, aber die Grundversorgung kann komplett durch die Freiwilligen aufrechterhalten werden. Da sieht man, wie gut sowas funktionieren kann.

Aus deinen Erzählungen wird deutlich, wie viele Strukturen von den Menschen bereits selbst aufgebaut wurden, man unterstützt sich gegenseitig. Und das erst so kurze Zeit nach der Katastrophe. Wo nehmen die Menschen die Energie dafür her?

Ich denke, es wäre eigentlich Aufgabe des Staates, das zu koordinieren. Aber die Menschen waren in den ersten Tagen auf sich allein gestellt. Da mussten sie sich sehr schnell koordinieren und vernetzen. Der Vorteil ist, dass in Antakya jeder jeden kennt und es keine Diskriminierung unter den Minderheiten gibt, auch nicht von Türken gegen Minderheiten. Ich glaube, dass es deswegen so gut funktioniert.

Antakya wurde in seiner langen Geschichte mehrmals von Erdbeben zerstört – und wieder aufgebaut. Was braucht es, dass ein Wiederaufbau gelingen kann?

Natürlich ist es erstmal wichtig, dass es den Menschen wieder gut geht. Aber es braucht auch Bewusstsein für die Kultur und Geschichte der Stadt, für die Gebäude, die Straßen, die Erinnerungen dahinter. In der Altstadt Antakyas steht zum Beispiel eine Moschee Wand an Wand mit einer Kirche… Minarette stehen direkt neben Kirchtürmen… Solche „Details“ sind wichtig für die Menschen und machen die Stadt aus. Erst vor kurzem wurde zum Beispiel eine orthodoxe Kirche unter Denkmalschutz gestellt, nachdem auf Social Media dagegen protestiert wurde, dass sie abgerissen werden soll. Ich hoffe, dass beim Wiederaufbau generell darauf geachtet wird, Teile alter Gebäude zu bewahren oder wiederzuverwerten.

Abgesehen vom Wiederaufbau, was brauchen die Menschen aktuell am dringendsten?

Nach wie vor fehlen Zelte. Eine Freundin aus einem katholischen Dorf in Hatay hat mir erzählt, dass ihre Verwandten wochenlang auf Zelte gewartet haben. Von AFAD (die türkische Katastrophenschutzbehörde, Anm.) bekamen sie nur zu hören: „Eure Häuser stehen ja noch… Ihr braucht keine Zelte!“ Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als in einem einsturzgefährdeten Haus zu schlafen oder im kalten Garten – mit ihrer Oma und ihrem Cousin, der eine Behinderung hat. Mittlerweile haben sie zum Glück ein Zelt bekommen, aber es hat lange gedauert. Wenn man den Menschen Unterstützung anbietet, muss man, wie bereits gesagt, auch auf ihre Bedürfnisse, auf die demografische Situation eingehen. Neben den Zelten fehlt vor allem Wasser. Ein Freund von mir ist eineinhalb Stunden gefahren, bis er ein paar Flaschen gefunden hat. Das muss viel besser koordiniert werden – da geht es um Grundbedürfnisse! In den ersten Tagen wurde auch sehr viel Kleidung aus Europa und der Türkei in die Erdbebengebiete geschickt. Im Endeffekt liegen noch immer überall am Straßenrand Kleidungsstücke, weil das einfach nicht gut koordiniert wurde. Die können jetzt nicht mehr verwendet werden. Geld brauchen die Menschen natürlich auch, aber das würden sie nie zugeben. Die Leute aus Hatay sind sehr stolz.

Das erste Erdbeben ist jetzt circa ein Monat her. In österreichischen Medien wird immer weniger darüber berichtet. Was wünschst du dir von der österreichischen Gesellschaft?

Wenn man keinen direkten Bezug zum Thema hat, nimmt die Präsenz im Alltag natürlich ab – das verstehe ich! Aber für uns wird das Leid vielleicht mehrere Jahre präsent sein, bis die Leute wieder zurück in ihre Stadt kehren können und alles wieder aufgebaut ist. Die Menschen dort werden jahrelang Unterstützung brauchen. Deswegen habe ich auch gleich am Anfang ein Spendenkonto eingerichtet, weil ich wusste: Das Thema ist jetzt präsent in den Medien, jetzt helfen die Menschen, jetzt spenden sie Geld. Aber was ist in ein paar Wochen oder Monaten? Wir sind jetzt an dem Punkt angelangt, ein Monat nach dem Erdbeben, wo die Leute bereits um das Nötigste betteln müssen. Wenn man also Leute kennt, die vor Ort helfen oder die Bekannte in den Erdbebenregionen haben, dann fragt sie bitte: Wie kann ich euch weiter unterstützen?

Deutschland ermöglicht es, Familienmitglieder aus der Türkei nach Deutschland zu holen. Ist das in Österreich auch Thema?

Österreich hat dieses Angebot bisher nicht gemacht. Wir hoffen natürlich darauf. Aber dann wäre es wichtig, dass der Ablauf weniger bürokratisch ist. In Deutschland ist es zwar möglich, Verwandte aus den Erdbebengebieten zu sich zu holen, aber es ist sehr kompliziert. Die Leute brauchen dafür viele Dokumente von türkischen Behörden. In Antakya gibt es aber derzeit keine Behörden. Man müsste dafür in die nächstgrößere Stadt fahren oder gleich in die Hauptstadt Ankara. Das zweite Problem ist, dass die meisten Leute in Hatay, oder der Türkei generell, keinen Pass haben, weil sie noch nie im Ausland waren. Eine tatsächliche Unterstützung ist das Angebot also nicht.

Du selbst planst in den nächsten Monaten in die Türkei zu fliegen, um deine Spendensammlung persönlich nach Hatay zu bringen. Wie geht es dir mit dem Gedanken, ein völlig verändertes Antakya zu sehen?

(schweigt bedrückt) Wegen der Pandemie war ich mehrere Jahre nicht dort – das erste Mal in meinem Leben. Vor kurzem habe ich einer österreichischen Freundin Istanbul gezeigt und überall wurde ich gefragt: „Wieso bringst du deine Freundin nach Istanbul und nicht nach Hatay? Das richtige Essen und die richtigen Sehenswürdigkeiten gibt es doch dort!“ Ich wusste gar nicht, dass ich emotional so gebunden bin an Antakya. Es wird hart sein, die Stadt so zu sehen. Aber ich habe Hoffnung, dass sie wieder aufgebaut werden kann.

Wie bereitest du dich auf den Aufenthalt vor?

Derzeit ist die Lage vor Ort sehr unsicher, auch wegen der Neuwahlen im Mai. Deshalb buche ich erst einmal nur den Hinflug. Den Rückflug werde ich planen, wenn ich mir ein Bild der Lage gemacht habe. Gemeinsam mit einer Freundin werde ich Sachspenden und Geld nach Hatay bringen. Unsere Mütter sind natürlich nicht begeistert von dem Plan (lacht). Zwei junge Frauen, allein, und noch dazu gehören wir beide einer Minderheit an – sie ist orthodoxe Christin, ich bin Alawitin. Was, wenn wir am Weg geplündert oder angegriffen werden?

Besteht dieses Risiko?

Ja, es gibt Berichte dazu, auch Videos. Aber das Heer greift bei den Plünderungen mittlerweile hart durch, auch um das Volk zu schützen, mehr oder weniger. Aber dieses Risiko müssen wir letztlich eingehen… Es hilft natürlich auch, dass ich die Sprache spreche, mich dort gut auskenne und bei Freunden unterkommen kann, die außerhalb des Zentrums wohnen. Außerdem bin ich derzeit auf der Suche nach einer ehrenamtlichen Organisation, die ich unterstützen kann. Ohne eine Organisation macht es keinen Sinn vor Ort seine Unterstützung anzubieten. Das wäre ein zu großer Organisationsaufwand und auch nicht wirklich effektiv.

Seit dem ersten Erdbeben machst du auf Social Media auf das Thema aufmerksam, sammelst Spenden und hast telefonisch Entlastungsgespräche auf Türkisch angeboten – du arbeitest ja hauptberuflich als Sozialarbeiterin. Wie geht es dir mit diesem Engagement?

Es ist anscheinend doch etwas anderes, wenn man selbst betroffen ist… Wenn ich das zum Beispiel mit dem Bürgerkrieg in Syrien vergleiche: Mit den Menschen, die nach Österreich geflüchtet sind, habe ich auch viel gearbeitet, aber da konnte ich mich viel besser abgrenzen. Wenn man einen Bezug zu dieser Stadt hat, zu diesen Menschen, ist das Abgrenzen natürlich schwieriger. Die ersten zwei Wochen ging es mir deshalb sehr schlecht. Auch weil viel Unwissen da war. Wir konnten die ersten vier Tage ja niemanden erreichen. Dann gab es das zweite Erdbeben (am 20. Februar, Anm.) und alles fing wieder von vorne an. Das macht dich natürlich fertig.

Wie bist du damit umgegangen?

Das ist das Schöne an den Menschen aus Hatay… Wir haben uns auf Social Media sehr gut vernetzt. Zuerst wurden vor allem Infos abgeglichen: Man tauscht sich aus, ob jemand was von diesem oder jenem Viertel weiß. Dadurch habe ich auch sehr viele coole Leute kennengelernt. Ich bin nach wie vor im Austausch mit diesen Leuten und auch den Kulturvereinen aus Deutschland, die fortlaufend nachhaltige Projekte planen. Aber auch sehr viele Bekannte und Freunde aus Wien haben unterstützt. Hier wurde von der türkischen und auch der kurdischen Community viel gesammelt. Ich finde, all das gibt Hoffnung. Es ist schön, diesen Zusammenhalt in den Communitys zu sehen. Ich habe mich auch deswegen so viel engagiert und will auch unbedingt nach Hatay fliegen, weil ich glaube, dass ich erst dann ein bisschen ruhen kann, wenn ich vor Ort war. Dann war ich zumindest dort und hab nicht nur aus der Ferne mobilisiert und unterstützt – obwohl das natürlich auch eine Hilfe ist.

Eine Frage noch zum Abschluss: Was ist für dich das Besondere an Antakya bzw. Hatay? Was macht die Stadt für dich aus?

(denkt nach) Es gibt so vieles… Da kann ich mich nicht auf eine Sache beschränken… Antakya hat ja eine sehr lange, reiche Geschichte – als das antike Antiochia – und ist kulturell enorm vielfältig. Ich habe dazu einen Text auf Instagram geschrieben, als ich eine Nacht lang nicht schlafen konnte. Der hat sehr viele Menschen angesprochen. Viele haben sich daraufhin bei mir gemeldet, vor allem wegen der arabischen Insider in dem Text. Diese Insider über Hatay haben so viele Leute verstanden – egal ob meine orthodoxen Freunde, die katholischen oder die Sunniten. Das zeigt, wie verbunden die Menschen in Hatay sind. Die Dinge, die die Minderheiten ausmachen, sind kein Grund sich voneinander zu distanzieren, sondern sie verbinden die Menschen viel mehr. Das ist das Schöne an Antakya.


Wenn du die Erdbebenhilfe in der Region mit einer Spende unterstützen willst, findest du hier einige Links:

Seh-Hanna Sozial und Kultur Verein e.V.

Hilfsorganisation AHBAP

Wenn du Dilek unterstützen willst, kontaktiere sie am besten über Instagram: @_dilekaz


Titelbild: Çağlar Oskay/unsplash

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