Im Westen nichts Neues (Netflix, 2022) begeistert seit seinem Erscheinen im Oktober internationale Filmkritiker*innen. Radikal pazifistisch und unangenehm nah zeigt der Film die Schrecken des Ersten Weltkriegs. Dabei stellt er Fragen nach der Legitimität von Krieg und der Bedeutung von Männlichkeit.
Unter einer Schneedecke kuscheln sich drei Fuchsjunge an ihre Mutter. Im Wissen was mich in diesem Film erwartet, halte ich den Atem an. Diese erste Szene wird die letzte Behagliche der nächsten 148 Minuten sein. Erst im Abspann, der stumm wie ein Totenregister abläuft, erinnere ich mich daran Luft zu holen…nur schwer.
Im Westen nichts Neues, der seit Ende Oktober auf Netflix und in den Kinos läuft, ist die dritte Verfilmung des gleichnamigen Romans von Erich Maria Remarque. In dem 1929 erschienenen Buch verarbeitet Remarque seine Erfahrungen als junger Soldat an der Westfront des Ersten Weltkriegs. Seine zugängliche, fast zeitlose Sprache und die pazifistische Grundhaltung verhalfen dem Buch binnen kürzester Zeit zu internationalem Erfolg. Die Erstverfilmung des US-Regisseurs Lewis Milestone aus dem Jahr 1930 (All quiet on the Western Front) gilt als erster Antikriegsfilm der Geschichte und prägt das Genre sowie das kollektive Erinnern an den Ersten Weltkrieg bis heute: Grabenkämpfe, Materialschlacht, physische und psychische Zerrüttung der Soldaten sind zum Sinnbild für diesen Krieg geworden.
An diesen Stoff wagte sich nun erstmals ein deutsches Team unter der Regie von Edward Berger für Netflix. Mit vollem Erfolg. Der Film ist der deutsche Anwärter in der Kategorie „Bester internationaler Spielfilm“ für die Oscars 2023. Seit seinem Erscheinen belegt er auf der Liste der meistgesehenen nicht-englischsprachigen Netflix-Filme den ersten bzw. zweiten Platz. Auch auf der Plattform IMDb fällt er mit einer Bewertung von 7,9 Sternen aktuell unter die Top 10 der beliebtesten Filme. (Stand 16.11.)
Insbesondere begeistert die Kritiker*innen die schauspielerische Leistung Felix Kammerers, der den Protagonisten Paul Bäumer verkörpert. Der Wiener Burg-Schauspieler steht hier zwar erst zum zweiten Mal vor der Kamera, meistert jedoch gekonnt die Gratwanderung zwischen verbissenem Soldaten und verängstigtem Gymnasiasten. Auch Albrecht Schuch, als der etwas ältere Kat, liefert eine nuancierte Performance, die der gesamten Handlung Tiefe verleiht. Damit rutscht der Film weder in blindes Heroentum noch in plakative Melodramatik ab – eine Aufgabe, der sich jeder Antikriegsfilm stellen muss.
In Bild und Ton kann Im Westen nichts Neues nicht nur im deutschsprachigen Kontext mithalten. Kamera und Ton bleiben stets unangenehm nah an den Figuren. Angst, Schrecken und Ausweglosigkeit werden so für die Zuseher*innen unausweichlich spürbar, mitunter schwer auszuhalten. Damit erinnert der Film deutlich an seinen jüngsten Genre-Vorgänger 1917 (Sam Mendes, 2019). 2020 gewann dieser drei Oscars für Kamera, visuelle Effekte und Ton. Mit Roger Deakins‘ (Kamera für 1917) Arbeit könnte sich hier ein neuer Genre-Standard herausgebildet haben, an dem sich Im Westen nichts Neues und zukünftige Antikriegsfilme getrost orientieren können. Ob Im Westen nichts Neues gut daran getan hätte, eine eigene Bildsprache zu entwickeln, werden die nächsten Jahre Filmgeschichte zeigen.
Die visuelle Ähnlichkeit zwischen den beiden Filmen hat jedenfalls einen spannenden Effekt: Für die Zuseher*innen wird deutlich, wie austauschbar die Erfahrungen in den Schützengräben waren, egal welcher Kriegspartei. Historiker*innen bezeichnen den Ersten Weltkrieg als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Drei Millionen Soldaten kamen allein an der Westfront ums Leben. Die Überlebenden kehrten zu einem Großteil schwer verletzt und traumatisiert in ihre Heimat zurück. Durch diese kollektive Erfahrung einer ganzen Generation von Männern sind Krieg und Männlichkeit bis heute untrennbar verknüpft, schreibt die Historikerin Joanna Bourke.
Mit seinen zwei Handlungssträngen spielt nun auch Im Westen nichts Neues auf diese Katastrophe an. Der Film folgt einerseits Paul und seinen Kameraden im Grabenkampf und andererseits den Verhandlungen für ein Kriegsende. In den Dialogen um den Waffenstillstand wird die Frage nach der Legitimität des Krieges immer wieder mit Diskussionen um Männlichkeit verbunden. „Was ist ein Soldat ohne Krieg?“ – mit diesen Worten spricht sich ein General gegen das Kriegsende aus. Und ein anderer fügt hinzu: „Die Männer werden auf dem Heimweg verhungern, anstatt in aller Ehre auf dem Schlachtfeld zu sterben.“ Daraufhin antwortet Matthias Erzberger (Daniel Brühl), der für einen Waffenstillstand eintritt: „Ehre? Mein Sohn ist im Krieg gefallen. Er empfindet keine Ehre.“
Dass sich der Mythos individueller Tapferkeit im modernen Krieg als Illusion entpuppt, macht Im Westen nichts Neues unmissverständlich deutlich. Bereits mit dem ersten Schuss schwindet die Kampfeslust von den Gesichtern der jungen Soldaten. Die Appelle an Tapferkeit, Mut und Härte sind hier wenig von Nutzen. (SPOILERWARNUNG!) Am Ende kehren weder Paul noch seine Kameraden nach Hause zurück.
Indem Im Westen nichts Neues schonungslos die Grausamkeit des Krieges zeigt und gleichzeitig Mythen über Krieg und Männlichkeit aufbricht, entwickelt er eine „radikal pazifistische“ Haltung. So nennt es der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt („Filmanalyse“ auf YouTube) und fragt, ob ein solcher Film angesichts des Krieges in der Ukraine heute noch produziert werden würde. Während wir 1917 in einer Welt sahen, in der Pazifismus unhinterfragt zum guten Ton gehörte, scheint die Frage nach der Legitimität von Kriegsführung heute wieder komplexer geworden zu sein. Im Westen nichts Neues geht schließlich auch deshalb unter die Haut, weil er die Zuseher*innen erinnert, weshalb es radikalen Pazifismus braucht. Vielleicht nimmt sich die Academy dies im März 2023 zum Anlass, um Im Westen nichts Neues zum besten internationalen Spielfilm zu küren.
Titelbild © unsplash/ErServer
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