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Tyll tut #3 – Aufräumen

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In dieser Kolumne wird unser Redakteur Tyll Leyh erwachsen. Das ist zumindest der Plan. Er probiert Hobbys, scheitert und liefert dabei Einblicke in sein Seelenleben. Dieses Mal reinigt er seinen Körper und Geist durch erholsames Aufräumen.

Ich sitze vor meinem leeren Schrank. Dieselbe Leere fühle ich, wenn ich auf die Haufen Wäsche schaue, die sich links und rechts von mir angesammelt haben. Es ist Sonntagmorgen, ich bin voller Elan, die Dinge so richtig anzugehen und knie vor Bergen billiger Baumwolle. In meinem alten Leben war Aufräumen zweitrangig. Der Trick, um sich dennoch in relativ sauberer Umgebung aufzuhalten, bestand darin, eine größere Toleranz für Unordnung zu entwickeln als das eigene Umfeld, nur ein ganz kleines bisschen reicht da schon. Wenn es den*die anderen dann stört, räumt er*sie es schon weg. Wenn ich in Aktion getreten bin, dann meist, weil es an mich herangetragen wurde. Aber das ist vorbei. Jetzt heißt es Eigeninitiative. Denn erwachsen sein bedeutet, die Dinge anzugehen, selbst zu tun und nicht darauf zu warten, von jemand anderem darauf hingewiesen zu werden. Früher habe ich höchstens dann aufgeräumt, wenn ich mich von Wichtigerem ablenken wollte. Derselbe Effekt setzt nun gegenteilig ein. Ich würde sogar lieber laufen gehen. 

Aber warum auch aufräumen, warum jetzt?

Kurz zusammengefasst: Unordnung ist out, Aufräumen die neue Offenbarung. 

Klar gab es das immer schon, aber eben als alltägliche und langweilige Tätigkeit. Aufräumen 2.0 schafft Reinheit in Körper und Geist, inneres Wohlbefinden, Glück und Erfolg. Es zeigt sich einmal mehr das Funktionieren der einfachen Formel: Alltägliches + esoterischer Background + Heilsversprechen = Neuer Trend. 

Die Koryphäe hinter der Behauptung, dass kein Problem groß genug ist, um nicht durch sehr eng gefaltete T-Shirts gelöst zu werden, ist Marie Kondō. Die japanische Bestseller Autorin hat nicht eins, nicht zwei sondern inzwischen drei Bücher über das Thema Ordnung geschrieben und eine eigene Netflix Sendung, in der sie Familien beim Ausmisten hilft. Sie ist streng und freundlich, rational und sparsam mit Gefühlen, löst bei mir sofort ein diffuses schlechtes Gewissen aus und bringt uns allen bei: Eine kaputte Beziehung kann durch eine gut durchsortierte Sockenschublade gerettet werden. 

Es geht also nicht nur darum, alles aufzuräumen, noch besser ist es, sich von all dem manifesten Ballast direkt zu trennen: Was nicht gebraucht wird, kommt weg. Die Leere erschafft ganzheitliche Glücksgefühle.

Hinter Marie Kondōs Versprechen steht der einfache Aufruf bei der Betrachtung eines beliebigen Gegenstandes: Does this spark joy? Wenn ja darf er bleiben, wenn nein muss er gehen. 

Mit etwas Bedeutung wird einfach alles erträglicher.

Ich habe jetzt ein labbriges schwarzes T-Shirt in der Hand und bin mir nicht sicher. Wirklich glücklich macht es mich nicht, aber muss es das denn? Zur Sicherheit lasse ich den Wäschehaufen erstmal liegen und versuche mich an meinem billigen Fahrradlicht. Gefühle? Eher negative wegen des schlechten Akkus, aber kein Licht haben ist nicht besser… Nächster Versuch: Salzstreuer, leicht eingefettet, leer, durchaus noch zu gebrauchen. Erster sicherer Fall von darf bleiben. Weiter geht’s: Alter Fahrradsattel: Sicher noch 5€ wert. Bleiben. Eingegangene Pflanze: die könnte nochmal blühen im Frühling, lieber abwarten. Bleiben. Kopfhörer: Funktionieren immerhin noch auf einem Ohr. Bleiben. Buch von Peter Handke, es wird nicht einfacher, Kompromiss: Bleiben und nicht lesen. Homöopathische Kügelchen: immerhin keine Nebenwirkungen. Bleiben.

Mit jedem abgesegneten Wlan Router und leerem Marmeladenglas steigt in mir die Gewissheit: Ich mache schon viel richtig. Die Gegenstände in meiner Wohnung, in den schönen Baumarkt-Blechregalen aufbewahrt, haben ihre Daseinsberechtigung. Jedes Willhaben-Möbelstück trägt doch wahre Schätze in sich und die Scheibe Brot esse ich einfach auf, bevor sie mir eine Frage stellen kann. 

Erschöpft und glücklich lasse ich mich aufs Sofa fallen und vergesse den leeren Schrank für einen Moment. Es funktioniert. Besser als erwartet. Auch wenn ich mich meiner Herkunft nicht entziehen kann. Ich bin nunmal damit aufgewachsen, dass der ungelesene Zeitungsstapel einen nicht unordentlich macht, sondern intellektuell. Den einen Artikel, den wollte ich noch lesen. Tue ich zwar nicht, aber stört es mich? Wirklich ordentlich sieht es hier jetzt nicht aus. Eher genau wie davor. Schrank räume ich dann später wieder ein, oder morgen.

Ist das überhaupt ein Hobby?

Gelernt habe ich einiges. Aufräumen hat etwas beruhigendes, es verdeutlicht mir, dass alles einen festen Platz hat im Leben: Das Buch steht im Regal, die Pflanze kommt auf’s Fensterbrett und die Hose liegt weiterhin auf dem Boden vor dem Bett. Trotzdem habe ich einen Fehler gemacht: Aufräumen ist Joggen nur für zu Hause. Etwas Alltägliches wird zur erfüllenden Tätigkeit hochstilisiert. Was kommt denn als nächstes? Emotional den Müll herausbringen? Nein, auch Aufräumen überzeugt mich nicht abschließend, die Suche geht weiter. Vielleicht mit etwas, was wirklich von Bedeutung ist, gerade für die eigene Gesundheit. Etwas, das kein kurzer Trend ist, sondern einen wirklich eine ganze Weile beschäftigen kann.  Etwas, an das niemand gedacht hatte, es auch als Hobby zu betreiben. Das Erwachsenste der Welt.

Es folgt:  Tyll tut#4 – Nicht mehr Rauchen

Marie Kondō hat übrigens neuerdings einen Online Shop eröffnet, um die leeren Stellen in der Wohnung auch wieder aufzufüllen. So viel Kapitalismus darf sein. Mein persönlicher Favorit: Stimmgabel und Roséfarbener Quartz Kristall für 75$, kann man sicher immer mal gebrauchen. Ein echter Must Have.

(Neu ist die Einführung des Hobbyscores, für die neoliberale Mess- und Vergleichbarkeit)

Erfolgserlebnisse: Ich sehe meinen Besitz im neuen Licht 8/10 

Macht fit und belastbar: Eher weniger, höchstens mental 2/10

Fühlt sich nach Arbeit an: Ohne Worte 10/10 

Preislich skalierbar: Man muss ja erst einmal etwas besitzen um es wieder loszuwerden: 7/10

Spaß: Entwickelt sich vielleicht erst durch die Wiederholung 4/10

Gesamt: 31/50

Ich weiß auch nicht, wie man das schreibt.

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