Generation Schengen: Wie Corona unsere Wahrnehmung von Grenzen verändert

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Covid-19 hat viele Veränderungen mit sich gebracht. Eine davon: die Schließung von Grenzen sowie die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Was bedeutet das für eine Generation, die in dem Bewusstsein aufgewachsen ist, sich innerhalb des Schengen-Raums frei bewegen zu können? Wir haben uns umgehört.

Offene Binnengrenzen und uneingeschränkter Personenverkehr: Für eine Generation von jungen Europäer*innen war das dank der Schengen-Zone jahrelang eine Selbstverständlichkeit, vielleicht sogar Teil ihrer europäischen Identität. Jedenfalls bis zum Ausbruch der Corona-Krise. Insbesondere Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in einem (oder mehreren) europäischen Staat(en) haben, mussten sich erstmals mit geschlossenen Grenzen innerhalb des Schengen-Raums auseinandersetzen. Wir wollten wissen: Was hat sich durch die Schließung der Grenzen für sie in den letzten Wochen verändert? Wie haben sie diese besondere Situation erlebt? Und vor allem: Hat die Erfahrung ihre Wahrnehmung von Grenzen für die Zukunft beeinflusst?

Damir (Aktueller Wohnort: Bratislava, Slowakei)

Ich wohne sowohl in Bratislava als auch in Wien. Zum Arbeiten pendle ich nach Wien. Als die Grenzen geschlossen wurden, war das ein arges Gefühl, weil es einen direkten Impact auf meinen Alltag hatte. Das Pendeln war mit einem Schlag nicht mehr möglich. Ebenso unmöglich war es durch die geschlossenen Grenzen plötzlich, dass meine Frau und ich uns sehen, dass unsere kleine Tochter ihre Mama sehen kann. Das war komplett lebensverändernd, sehr einschränkend und auch sehr beängstigend. Davor hat man die Grenzen gar nicht bemerkt und auf einmal sind sie da. Und es sind nicht einmal nur normale Grenzkontrollen: Nein, es ist ’ne dichte Grenze mit Beamten, die dich in Quarantäne schicken können. Grenzen, die teilweise mit riesigen LKW-Kolonnen gesichert werden. Das ist schon alles sehr spooky! Du hast einfach das Gefühl, deine Freiheit, deine Bewegungsfreiheit endet hier.

Den Schengen-Raum habe ich immer schon toll gefunden, ihn nie gering geschätzt: Aber klar, jetzt ist er natürlich noch wertvoller. Das ist schon ein nahezu elektrisierendes Gefühl, wenn du nicht auf die Bremse treten musst, wenn du die Grenze passierst.

Mein Bewusstsein für Grenzen hat sich definitiv geändert. Man hat jetzt wieder einmal gesehen, was eine dichte Grenze bedeutet. Natürlich hat man vorher so eine Art Selbstverständnis gehabt – das kommt auf, wenn es offene Grenzen gibt. Jetzt hat man insgesamt mit Blick auf Europa ein Gefühl von Unsicherheit, da man nicht weiß, wie es weitergeht. Ob die Grenzen tatsächlich wieder komplett abgebaut werden: Ja, sie sind jetzt wieder (teilweise) offen, aber wie lange? Es ist nicht mehr dasselbe Vertrauen wie vorher da.

Nathalie (Aktueller Wohnort: Wien, Österreich)

Ich komme ursprünglich aus Berlin, für mein Studium bin ich nach Wien gezogen. Seit fast zwei Jahren führe ich eine Fernbeziehung nach Budapest. Keiner von uns beiden hatte die Existenz von nationalen Grenzen zwischen uns bisher als potentielles Problem identifiziert. Das hat sich dann schlagartig geändert. Ungarn hat als eines der ersten Länder Europas eine totale Einreisesperre für Ausländer verhängt. Auch wenn ich von Anfang an vollstes Verständnis für die Maßnahmen hatte, war es schwierig, nicht zu wissen, über welchen Zeitraum die Reisebeschränkungen bestehen würden. Auch als die ersten Lockerungen kamen, blieb es kompliziert. Geschäftsreisen wurden als Erstes wieder erlaubt. Auch wegen eines medizinischen Notfalls, eines Gerichtstermins oder einer Beerdigung durfte man in Ausnahmefällen einreisen und Ehepartner durften sich gegenseitig besuchen. Eine Liebesbeziehung jedoch lässt sich nicht mit offiziellen Dokumenten belegen, demnach ist sie auf bürokratischer Ebene irrelevant. Diese Erkenntnis war schon schwer zu internalisieren. Wir leben als emotionale Wesen in einer rationalen Welt. Und ein gebrochenes Herz ist kein medizinischer Notfall.

Ich habe mehr als die Hälfte meines Lebens im europäischen Ausland gelebt: Ich fühle mich daher eher als Europäerin denn als Deutsche. Durch die im Zuge der Corona-Krise eingeleiteten Maßnahmen hat sich mein Bewusstsein für die Existenz und Bedeutung von Landesgrenzen extrem gewandelt. In dem Zusammenhang fing ich auch an, meine Sichtweise über Nationalität zu überdenken. Ich kann mich so europäisch fühlen wie ich möchte, auf dem Papier bin ich deutsche Staatsbürgerin. Das gibt mir die Berechtigung auch in einer Krisensituation in mein Heimatland einreisen zu können, wofür ich dankbar bin. Andererseits brachte meine Nationalität plötzlich auch Probleme mit sich, da ich deswegen nicht nach Ungarn einreisen konnte. Ich habe mich selten so sehr mit meiner Nationalität konfrontiert gefühlt wie in dieser Situation.

Tomasz (Aktueller Wohnort: Düsseldorf, Deutschland)

Originally I come from Poland. I spent 6 years in Edinburgh studying. Afterwards I have moved to Düsseldorf because this is where I started my Postdoc at the university. Quite a lot has changed for me since the borders closed, actually. That is because my partner is still living in Edinburgh. Up until mid-March we were regularly visiting each other. Since the borders closed we have not seen each other, this has been 3 months ago. So it has been a trying period, a challenging one. But I think there are some benefits in it as well: We developed new ways to communicate and just kind of staying in this together. As for the Schengen area, it has mostly affected me professionally, we quite often travel for conferences to other universities, the closures of borders meant these events got cancelled or moved to an online format. It is of course not as good for research, cause the opportunities to interact are limited. But at the same time it might be better for the environment, if we learn to take the best out of these online meetings. They are much more inclusive, in the long run this might be a shift towards a different way of organising these events. It is challenging now, but maybe a move in the right direction.

Basically all my adult life and the time I spent studying and working abroad, the open borders and freedom of movement was something I took as an obvious fact. Now that has been taken away from us, hopefully temporally, but it just made me appreciate the privilege that the previous situation was.

My awareness of borders has changed a lot. Poland has been a member of the EU since 2004 and few years after that joined the Schengen zone. Basically all my adult life and the time I spent studying and working abroad, the open borders and freedom of movement was something I took as an obvious fact. Now that has been taken away from us, hopefully temporally, but it just made me appreciate the privilege that the previous situation was. Maybe sometimes it is good to stop and think and realise how lucky we were. I try to travel more responsibly in the future because it turned out not to be as necessary. So, on the one hand appreciation for the free movement, but at the same time reflection on how much we need to travel and exploit our planet vs. what is actually necessary for us.

Chiara (Aktueller Wohnort: Oslo, Norwegen)

Ich lebe seit vier Jahren in Oslo, komme aber ursprünglich aus Wien-Umgebung. Momentan schließe ich meinen Master in Philosophie ab. Ich wäre eigentlich im Sommer zu meinem Geburtstag nach Hause geflogen, aber jetzt mit zweimal zwei Wochen Quarantäne (oder 190€ für den Flughafen-Coronatest) geht das leider nicht. Meine beste Freundin in Wien ist schwanger momentan und es ist schade, das komplett zu verpassen. Ich hoffe momentan einfach, dass ich zumindest im Herbst zur Geburt kommen kann. Normalerweise fliege ich auch nur zweimal im Jahr nach Hause, also hat sich bisher noch nicht viel konkret verändert. Aber es ist ein komisches Gefühl, nicht uneingeschränkt die Möglichkeit zu haben, schnell nach Wien kommen zu können, wenn etwas passiert. Was ist z.B., falls meine Großeltern erkranken oder sterben sollten und ich könnte nicht schnell nach Österreich fliegen, um bei meiner Familie zu sein? Ebenso würde ich nicht riskieren wollen, mich unterwegs mit dem Virus zu infizieren und meine Familie anzustecken. Aus Norwegen kommt man ja leider mit dem Auto nicht unbedingt nach Österreich, was derzeit die sicherste Art zu reisen wäre.

Mein Bewusstsein für Grenzen hat sich gar nicht so sehr verändert, eher für Distanz. Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, irgendwie würde man mich schon hereinlassen in Österreich. Aber der Aufwand und die Schwelle, was Zeit, Geld und Bürokratie angeht, sind enorm gestiegen. Und ehrlich gesagt, mit dem Nachbarland Schweden war ich teilweise schon ein bisschen froh, dass da die Grenzen dicht sind.

 

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