„Ist es doch noch was geworden!“ – Christoph Waltz‘ „Fidelio“ im Stream

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Der internationale Star-Schauspieler Christoph Waltz inszeniert Ludwig van Beethovens einzige Oper Fidelio. Solch ein Ereignis lässt sich die Theaterwelt auch trotz Coronavirus nicht entgehen: Anstatt im Theater an der Wien, sitze ich ein paar Kilometer von der historischen Stätte entfernt, in der die Oper uraufgeführt wurde. Ein Abend mit Beethoven und Waltz auf der Couch.

In diesen apokalyptischen Zeiten kann man wenigstens noch Oper streamen. Ich habe mir ein optimistisches Abonnement von 30 Tagen auf der Plattform fidelio gekauft (9,90 €). Zufälligerweise auch der Name der heutigen Oper. Offenbar überfordert die Nachfrage zum Stream die Plattform – wahrscheinlich ist das Christoph Waltz zu verdanken -, und ich muss meinen kuscheligen Opernabend verschieben.
Zweiter Versuch: Das Popcorn und die Schokolade stehen bereit, der Computer ist an die guten Musikboxen angeschlossen.

Los geht’s…

Der Vorhang hebt sich und enthüllt eine atemberaubende Kerkerlandschaft, die an die Stiegenlabyrinthe M.C. Eschers erinnern. Surrealistische Treppen winden sich in ausgangslosen Spiralen. In der Finsternis erklingen hallende Schritte, zwei Gestalten erscheinen. Florestan wird in die Tiefen des Kerkers gestoßen, rollt filmreif die Treppen hinunter und bleibt reglos liegen. Die Ouvertüre beginnt.

Es ist ein Abend voller Debüts: Dirigent Manfred Honeck ist zum ersten Mal im Haus zu erleben und überrascht mit den Wiener Symphonikern alle Fidelio-Fans mit unerwarteten Klängen: Die zweite Fassung der Oper beginnt mit einer fast viertelstündigen Ouvertüre, die uns zeigt, dass wir es mit dem großen Symphoniker Beethoven zu tun haben. Geschmeidig führt uns Honeck durch die weniger heroisch, eher düster klingende Ouvertüre. Pulsierend und strebend leitet Beethoven ein großes, menschliches Drama ein.

Sturm und Drang… und Biedermeier

Beethoven schrieb seine einzige Oper im Alter von 35 Jahren im Auftrag für das Theater an der Wien. Die „Rettungs- und Befreiungsoper“, eine Gattung, die während und nach der französischen Revolution besonders beliebt war, besingt den Mut und die Treue Leonores alias Fidelio, die als Mann verkleidet ihren eingekerkerten Ehemann Florestan befreit.

Nach der erschütternden Ouvertüre erklingen ganz andere Klänge: Marzelline (glänzend, Mélissa Petit), die Kerkermeisterstochter, hofft auf eine ereignislose Ehe mit Fidelio. Das revolutionäre Drama könnte nicht kleinbürgerlicher beginnen. Doch es sind genau diese profan erscheinenden Alltagsszenen, die das Pathos entschärfen. Beispielsweise die kapitalistische Gold-Arie Roccos (solide, Christof Fischesser) oder das Streit-Duett zwischen Marzelline und Jaquino (Benjamin Hulett).

Reduzierte Revolution

Der Einfluss des großen Kinos ist offensichtlich: Mit sparsamen, bedachten Gesten markieren die Sänger ihre Figuren, ohne sie zu überzeichnen. Vielleicht kommt dem Theater- und Filmschauspieler und Regisseur daher das Streaming gerade gelegen: Das Close-Up, das normalerweise jeder Opernproduktion ihre Glaubwürdigkeit zurechtstutzt, wirkt hier alles andere als peinlich.

Waltz präsentiert alle Helden in einem menschlichen Licht: Leonore (etwas schrill, doch ergreifend Nicole Chevalier), die Heldin des Abends, wird nicht als unaufhaltsam dargestellt, sondern kämpft bis zum Schluss mit der Angst. Mit Kerkermeister Rocco, der Don Pizarros Mordbefehl verweigert, Florestan jedoch das Grab schaufelt, wird ein Opportunist und Eigenbrötler gezeichnet, der zwischen Feigheit und Menschlichkeit changiert. Neben all diesen psychologisch durchleuchteten Figuren, bleibt nur Florestan (etwas wackelig, Eric Cutler), der erst im letzten Akt gefunden und gerettet wird, ein relativ blasser Charakter.

Waltz’s Spezialität ist natürlich der blutrünstige Bösewicht Don Pizarro (gewaltig, Gábor Bretz), der mit seinem verschlagenen Blick einem Tarantino-Film entsprungen scheint.

Eric Cutler (Florestan), Gábor Bretz (Don Pizarro), Christof Fischesser (Rocco), Nicole Chevalier (Leonore (Fidelio)) © Monika Rittershaus

Zurückhaltende Werktreue

Ist die Mimik zwar differenziert, wirken die Sänger*innen doch etwas eingeschränkt in ihren Bewegungen: Das Bühnenbild des Star-Architekten Barkow Leibinger ist zwar imposant, erweist sich aber leider als unpraktisch. Die Sänger*innen besingen immer nur die vorderen fünf Stufen und können auch Auf- und Abgänge aus Sicherheitsgründen nicht charaktervoll begehen.

Waltz hält sich auf jeden Fall auf der illustrativen Seite und inszeniert, ohne sich dem Werk aufzuzwingen oder der Geschichte neue Aspekte zu eröffnen. Ist doch nichts misslungen, so bleibt das Gefühl am Ende des Abends doch eher lauwarm. Vielleicht hat man von einem Künstler dieses Kalibers etwas mehr Brisanz erwartet.

Zum Schluss die Freiheit

Eindrücklich bleibt der Schlusschor, in dem das Heldenpaar Leonore und Florestan im Chor untergehen und das Epos zu einem metaphysischen wird. Jetzt kommt auch mal Bewegung auf die Bühne: Die Gefangenen vertreten sich die Beine und gehen bis zum letzten Takt ziellos im Kerker umher. Ein Bild, das man heute in Corona-Zeiten auf den Straßen Wiens tagtäglich beobachten kann.

Anstatt Applaus gibt’s leider nur ein Gruppenfoto. Waltz, inmitten des Schönberg Chores, den Solisten und des Regie-Teams dreht sich einmal zu allen um und ruft: „Ist es doch noch was geworden!“. Ich lobe mir die heutige Technologie und die ewige Kunst. Gott sei Dank ist es in dieser Form doch was geworden.

Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.

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