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Im Lichtspielhaus | Jojo Rabbit

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(c) Fox Searchlight Pictures

Taika Waititi – Jojo Rabbit (USA, 2019)
Tragikomödie
Roman Griffin Davis / Taika Waititi / Thomasin McKenzie / Scarlett Johannsen


Taika Waititis Thor 3 – Ragnarok, hierzulande mit dem ultragenerischen Titel Tag der Entscheidung gestraft, bot anno 2017 ein gelungenes, verrücktes Gagfeuerwerk voller Situationskomik und skurriler Figuren, aber schwächelte in dramaturgischer Hinsicht: Die eigentliche Tragik von Heldentoden und gar Weltuntergängen wurde nie so richtig greifbar, sondern immer rasch vom nächsten Witz oder Oneliner in den Hintergrund gedrängt. Dieses Nicht-Ernstnehmen von ernsten Geschehnissen zugunsten von Humor fällt bereits im für sich schon nicht gerade spaßbefreiten Marvel Cinematic Universe aus dem Rahmen, wäre für das nächste Projekt des Neuseeländers, Jojo Rabbit, aber geradezu fatal gewesen…

Denn mit besagtem (diesmal weltweit gleichermaßen seltsam betitelten) Film, einer selbstverfassten, freien Adaption des Christine Leunens-Romans Caging Skies, begibt sich Waititi thematisch auf sehr dünnes Eis: In der fiktionalen Kleinstadt Falkenheim (Nein, nicht das fliegende Gladiatoren-Las Vegas aus Paper Mario 2!) im Nazi-Deutschland der letzten Monate des zweiten Weltkriegs findet der zehnjährige frischgebackene Hitlerjunge Jojo (eigentlich Johannes) Betzler (Newcomer Roman Griffin Davis) heraus, dass seine Mutter Rosie („Black Widow“ Scarlett Johannsen) die jüdische Teenagerin Elsa Korr (Thomasin McKenzie, u. a. aus dem dritten Hobbit-Film bekannt) vor den Häschern des Regimes versteckt, und gerät in einen Gewissenskonflikt zwischen den NS-„Werten“, die ihm eingetrichtert wurden und der Liebe zu seiner Mutter, deren Schicksal durch einen Verrat an Elsa ebenfalls besiegelt wäre.

So weit, so tragisch und bisher so nahe an einer gefühlten Hundertschaft an Büchern zum Thema, die man im Deutschunterricht des Gymnasiums gelesen hat. Aber es gibt einen Twist: Jojo hat einen ganz besonderen besten Freund, der mit ihm herumalbert und ihn aufbaut, wenn er Angst hat oder traurig ist – Adolf Hitler (Regisseur Waititi selbst)!

Calvin und Hitler

„Dieser“ Hitler ist aber freilich nicht der echte Despot an der Staatspitze; letzterer tritt nur in historischen Archivaufnahmen auf, die im Zuge der virtuos-temporeich inszenierten Anfangssequenz Jojos kindlich begeistertem Sprint zu seinem ersten Zeltlager der Hitlerjugend entgegengestellt werden (während der unerhörte Ohrwurm Komm gib mir deine Hand, ein deutsches Cover des Beatles-Gassenhauers I Want to Hold Your Hand von den Original-Pilzköpfen persönlich erklingt und sich parallel dazu gespenstischerweise die schwarzweißen rechten Hände tausender realer Deutscher erheben).

Nein, Waititis Rolle ist ein schlacksiger, meist kindisch-clownesker, manchmal väterlich-fürsorglicher und dann doch wieder menschenverachtende Parolen polternder „Führer“, der nur in Jojos Kopf existiert – ein imaginärer Freund in Form Hitlers, so wie ihn sich ein zehnjähriger Bub vorstellt, der diesen vergöttert; halb Hobbes aus Calvin und Hobbes (wenn dieser kein Stofftiger, sondern der widerlichste Österreich-Export aller Zeiten wäre), halb die Kinderfantasie, einen angehimmelten „larger than life“-„Superstar“ nicht nur als besten Freund zu haben, sondern sich mit diesem auch noch auf Augenhöhe unterhalten zu können.

„What better way to insult Hitler than having him portrayed by a Polynesian Jew?“

Sein obig zitierter Tweet bringt Vorgehen und Motivation des Regisseurs (mit Maori-, irischen und russisch-jüdischen Wurzeln) auf den Punkt – aber er macht es sich keinesfalls so einfach, wie er es tun könnte: Waititi hätte einfach wild „herumhitlern“ können wie etwa die (tatsächlich kaum vorkommende) „Titelfigur“ im obskuren russischen Werk Hitler geht kaputt, welche kokst, bis sich das Hakenkreuz auf ihrer Armbinde cartoonish dreht und sie wie von der Tarantel gestochen durch das Zimmer dooft, und dabei schon einige Lacher ernten können. Aber nein: Dadurch, dass dieser Fantasie-Hitler Jojo immer wieder zum Lachen bringt („Oh, ich muss nach Hause – heute gibt’s Einhornbraten!“, ruft er, bevor er fröhlich und wie selbstverständlich aus dem Fenster springt) und ihm etwa zur Seite steht, als er unheimliche Geräusche aus dem Zimmer seiner verstorbenen Schwester hört (zu deren genauem Schicksal es nie einen artifiziellen „Info-Dump“ gibt, da sichtlich jeder in ihrem engeren Umfeld darüber Bescheid weiß – eine bewusste, natürlich wirkende Story-Lücke, die wie viele andere Elemente dazu beiträgt, dass sich die Geschichte überwiegend organisch und nicht nach klassischem Hollywood-Storyboard entwickelt; allzu gescriptet wirkende Ausreißer gibt es nur wenige), was in seinem ersten Aufeinandertreffen mit Elsa mündet, wird bei allem Slapstick facettenreich deutlich gemacht, wie perfide sich „Führer“ und Nazi-Ideologie im Geist dieses Kindes eingenistet haben, das permanent mit Propaganda zugemüllt wird, mehr als die Hälfte seiner zarten zehn Jahre in Kriegszeiten zugebracht und seinen einberufenen Vater seit drei Lenzen nicht mehr gesehen hat. Kurz: Watitis Performance (dessen Hitler auch immer wieder an unerwarteten Orten und in seltsamen Verkleidungen auftaucht) regt zu gleichen Teilen zum lauten Lachen an, wie dazu, dass einem selbiges häufig heftig im Hals steckenbleibt.

Was an dieser Stelle auch deutlich gemacht werden soll: Jojos „böser Freund Hitler“ ist zwar ein wichtiges Storyelement, das weit über ein bloßes Gimmick hinausgeht, und tritt regelmäßig in markanten Schlüsselszenen auf, verfügt aber insgesamt über weniger Screentime, als man vielleicht vermuten mag, und ist auch nicht der zentrale „Star“ der Show. Dieser Titel geht auch nicht an den wohl größten Namen der Besetzung, Scarlett Johannsen – obwohl sie gelinde gesagt verdammt gut spielt: Als liebevolle, aber auch gerne mal schelmische Mutter, passive Widerstandskämpferin und Elsas Beschützerin (der sie aber ehrlich und deutlich suggeriert, was geschähe, wenn sie sich einmal zwischen ihr und ihrem Sohn entscheiden müsste) zugleich spielt sie ihre Rolle mit Ecken und Kanten und nicht wie eine generische „Heilige“. Auch nicht an die sehr souveräne McKenzie, die ihrerseits nie in Opfer-Klischees verfällt, sondern dem „kleinen Nazi“ auch ordentlich Kontra gibt: Letztendlich ist sie der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, glänzt in vielen kleineren Dialogszenen und zeigt insbesondere in einer hochspannenden Passage eindrucksvoll subtile schauspielerische Nuancen, aber insgesamt verbringt sie nachvollziehbarerweise große Teile der Handlung allein und abseits der Kamera in ihrem Versteck.

Fanatismus im Kinderzimmer

Nein, der Star ist ganz klar der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten gerade mal elf Jahre alte Davis, den wir de facto den kompletten Film über begleiten (mit Ausnahme eines wenige Sekunden langen Montagen-Segments ist er in wirklich jeder Szene zugegen) und der eine schlichtweg fantastische schauspielerische Bandbreite zeigt: In seinen (leider etwas wenigen) Szenen mit dem zweitbesten Freund Yorki – Debütant Archie Yates, mit seiner kindlich-gelassenen, (vielleicht gar nicht mal so) naiven Art ebenfalls ein Szenendieb – wirkt er wie ein völlig unschuldiges, gutherziges Kind…bis er antisemitische Äquivalenzen zu Lagerfeuer-Schauergeschichten (weiter)erzählt und über das Ausliefern und Töten von Juden und das daraus folgende Ansehen beim vergötterten „Führer“ sinniert. Vernichtungslager werden in Jojos „Filter Bubble“ zwar nicht offen thematisiert, die systematische Verfolgung und Ermordung von Juden (sowie das öffentliche Hängen von „Verrätern“, wobei es hier aber, ohne das Grauen zu beschönigen, nie zu Effekthascherei kommt) aber sehr wohl; Jojo und seinen Altersgenossen werden sie im HJ-Camp als dämonische, gedankenkontrollierende „Boogiemen“ verkauft, was er erst nach seinen Treffen mit Elsa hinterfragt.

Und dies tut er auch nicht in einem plötzlichen Saulus-Paulus-Erweckungserlebnis: Sein Verhalten ist zunächst noch zutiefst boshaft und grausam, wenn er etwa Elsa zunächst erpressen will, ihm zu verraten, „wo Juden leben“, damit er ein Buch darüber schreiben und seinem bewunderten Hitlerjugend-Gruppenleiter (Iron Man 2-Co-Bösewicht Sam Rockwell in einer teils am Rande einer Karikatur wandelnden, aber doch stark und ambivalent gespielten Rolle als desillusionierter Nazi-Ausbildner) überreichen kann; oder wenn er das beim Abendessen von seiner Mutter übriggelassene Brotstück provokant selbst isst, weil er genau weiß, dass es eigentlich für das versteckte Mädchen gedacht gewesen wäre. Aber auch in seinen abstoßendsten Momenten schwingt stets eine kindliche Naivität mit, eine Gewissheit, dass dieser Knirps, der unbedingt „dazugehören“ und seinen „Wert“ beweisen will, bei Weitem nicht alles erfassen kann, was tatsächlich um ihn herum vor sich geht. Kurz: Roman Griffin Davis liefert eine dermaßen grandiose Performance ab, dass das Ausbleiben einer „bester Hauptdarsteller“-Oscar-Nominierung gelinde gesagt eine Frechheit darstellt!

Fazit

So riesig die Gefahr war, aus der Prämisse entweder pathostriefenden „Oscar-Bait“ oder klamaukiges Witzfigurentheater mit Nippes-Nazis zu machen, so großartig ist das Endprodukt Jojo Rabbit tatsächlich geworden: Selten gelingt es einem Film so gut, derartig stufenlos und natürlich zwischen extrem lustigen und tieftraurigen Situationen zu wechseln und dabei immer wie aus einem Guss zu wirken (ganz anders als das eingangs erwähnte Thor 3)! Nun gut, fast immer: Game of Thrones-„Theon“ Alfie Allen spielt einen Schergen, dessen Dummheit schon etwas zu sehr ins Surreale geht, aber sorgt dafür mit trockenem Understatement immerhin für laute Lacher und fügt sich nichtsdestotrotz ins Geschehen ein, ohne die Integrität der Geschichte wirklich deutlich zu stören. Brachialkomikerin Rebel Wilson dagegen wirkt als einzige Beteiligte so, als würde sie in einem anderen Film spielen: Trotz des einen oder anderen amüsanten „non-sequiturs“ von ihrer Seite übertreibt sie es mit Grimassen und Overacting und macht ihre Rolle ausgerechnet in einer inhaltlich eigentlich wirklich heftigen Szene endgültig zur Karikatur, was dem beinahe mit der Höchstwertung bedachten Werk nun (gemeinsam mit den paar zuvor angedeuteten, etwa blumig über die Natur von Liebe sinnierenden Hollywood-Klischeeszenen, die neben dem Gros des Films, das trotz oder sogar wegen vieler subversiv-effektiver satirischer Brechungen zutiefst wahrhaftig wirkt, besonders stark auffallen) doch noch einen halben Punkt kostet.

Aber von diesem Makel abgesehen: Jojo Rabbit (das übrigens auch eine Spitzen-Synchro bietet) hat meine Erwartungen wahrlich turmhoch übertroffen und ist, so hochtrabend es auch klingen mag, einer der schauspielerisch gelungensten, lustigsten, traurigsten und besten Filme, die ich je gesehen habe!

9,5/10

Herausgeber des "Generation N"-Printmagazins und generation-n.at-Videoredakteur, Germanist, Informatiker, Videospielfreak seit Kindergartentagen, auch Kino, Comics und dem Basteln von seltsamen Kurzfilmen nicht abgeneigt sowie stolzer Absolvent eines Wochenend-Intensivkurses der Clownerie.

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