Wenn Schmerzen zum Alltag werden

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Wie ist es, mit täglichen Schmerzen zu kämpfen – ist das wirklich die wichtigste Frage bei dieser Thematik? Denn welche Rolle spielen chronisch Schmerzkranke und Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft eigentlich? Sollten wir nicht stattdessen fragen, was wir alle tun können, um diesen Menschen den Alltag zu erleichtern und endlich die Barrieren der Diskriminierung niederzureißen?

Tom ist 23 Jahre alt, lebt in Berlin, studiert Philosophie und spanische Philologie. Er leidet am seltenen Klippel-Feil-Syndrom. Das ist eine Krankheit, die auf einen genetischen Defekt zurückzuführen ist. Es fehlen die Bandscheibe(n) zwischen zwei oder mehreren Wirbeln, die dadurch miteinander verschmelzen. Der Nacken- und Schulterbereich ist beim Klippel-Feil-Syndrom oftmals verkürzt und Teile der Wirbelsäule können asymmetrisch wachsen. Es kann zu Schwerhörigkeit, motorischen Einschränkungen, aber auch Organ- und Herzbeschwerden kommen. Heilbar ist die Krankheit nicht. „In meinem Fall fehlt zwischen dem zweiten und dritten Halswirbel die Bandscheibe. Ich habe sozusagen, die “leichte” Version des Klippel-Feil-Syndroms. Von Geburt an bin ich auf meinem rechten Ohr schwerhörig und habe ein asymmetrisches Gesicht. Durch die schiefe Wachstumsart meines Körpers sind gewisse Regionen meines Rückens stärker belastet als andere, was zu Schmerzen und Verspannungen führt. Diese habe ich regelmäßig seit meinem 16. Lebensjahr“, erklärt Tom auf seinem Blog Verspannungsbogen.de, auf dem er seit kurzem regelmäßig über seinen Alltag mit dem Syndrom schreibt – und der ist nicht immer ganz so einfach.

Barriere: Beziehungen

Der Alltag besteht oft aus gewissen Routinen. Was für die eine Person Matcha Latte und Meditation sind, ist für Tom die tägliche Morgengymnastik. Er braucht diese Bewegung, denn ohne die Übungen verstärken sich seine Schmerzen über den Tag massiv. „Ich glaube einfach, dass es nicht allen klar ist, dass es wirklich alle Lebensbereiche betrifft und eben auch verschiedene zwischenmenschliche Beziehungen“, so der junge Student. Nicht nur das Ritual am Morgen wird von seiner Krankheit definiert, sondern jeder anderer Bereich: Zum Alltag gehören Beziehungen, Partnerschaften, Freundschaften und Dating.

Tom ist homosexuell und erzählt, dass er schon oft Probleme hatte in Berlin mit der Szene in Kontakt zu kommen. Auf seinem Instagram-Account bezeichnet er sich selbst als „Failed Queer“. Ihm wurde schon oftmals auch von anderen queeren Personen gesagt, er sei zu sensibel, er solle mehr darüber lachen und nicht so langweilig sein.  „Dieses failed Queer ist eine Gegenkonstruktion zu diesem überholten aber noch immer sehr verbreiteten und stigmatisierten Bild des Schwulen, der hypersexualisiert ist, der keine Beziehung will (das will ich auch nicht shamen), der viel feiert, der immer gut drauf ist“, erzählt der Student. Hier zeigen Tom seine Erfahrungen, dass die weiße, schwule Szene immer noch von Oberflächlichkeiten geprägt ist und sich die Schwulenszene noch nicht genug mit der toxischen Männlichkeit befasst. Gerade das Kennenlernen in Clubs ist für Tom oftmals keine Option.

Lange Feiern und Tanzen können bei ihm starke Schmerzen verursachen. „Da bin ich dann auch ein bisschen isoliert und Isolation von Menschen mit Behinderung ist mit all den Barrieren ein wirklich großes Problem“, erklärt er.  Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, auch Ableismus genannt, ist in unserer Gesellschaft ein Phänomen, das oft unbewusst geschieht. Viele haben Hemmungen im Kopf, Menschen mit Behinderung als aktive Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen – egal in welcher Szene. Auch Tom befindet sich noch einer Veränderungsphase: Noch nicht lange verwendet er die Plakette: „Mensch mit Behinderung und chronisch krank“.

©Tom

Sensibilität ist okay!

Tom lebt seit Jahren mit den Symptomen. Er konnte sie nur nicht immer benennen. Oftmals dachte er, er habe nur ein bisschen Rückenschmerzen, muss mehr Sport machen und darf nicht so sensibel sein. Sensibilität wird häufig mit Schwäche gleichgesetzt. Suggeriert wird: wer nicht „stark“ genug ist, muss sich einfach mal zusammenreißen. Diese Ansicht ist nicht nur problematisch, sondern auch schlichtweg falsch. Die Tatsache, dass Tom über einen längeren Zeitraum versuchte eine chronische Krankheit zu ignorieren und kleinzureden, zeigt wie prekär die Situation unserer Gesellschaft eigentlich ist. Seit ungefähr einem Jahr bezeichnet sich nun Tom als Mensch mit Behinderung. Er ist nun auch Teil eines Selbsthilfevereins. Dort war er zum ersten Mal nur von Menschen, die unter dem gleichen Syndrom leiden, umgeben. „Während eines Workshops wendete sich die Vereinsführerin an uns alle und fragte, welchen Grad der Behinderung wir haben. Sie schaute mich an und fragte auch mich. Ich war so perplex. Ich habe mich selbst und dieses Wort Behinderung bis dato überhaupt nicht in Zusammenhang gebracht“, erklärt Tom.

Was wir tun können

Wir alle sollten und müssen mehr auf unsere eigene Körper hören – und nicht auf die Stimmen, die uns laut einreden, dass wir keine Schwächen zeigen dürfen. Manchmal ist das mit einer großen innerlichen Hürde verbunden. Aber gerade das macht uns stark. Wir müssen aufhören, Menschen mit Behinderung als nicht vollwertig zu sehen und anfangen, die Barrieren in unserer Welt und in unseren Köpfen abzubauen. Barrieren, die uns nicht sehen lassen, wie gut und hilfreich Sensibilität und „Schwächen“ sein können. Natürlich ist es ein miserables Gefühl nicht im Stande zu sein alles problemlos zu bewerkstelligen. 

Auch Tom weiß: „Mein Blog ist jetzt kein happy Blog, weil ich einfach auch meine manchmal unschöne Realität in der ich mich befinde, beschreibe und eben all die Sachen, die in meinem Leben nicht einfach sind“ und fügt an: „Aber nach Jahren des Zuhörens meines Körpers, meiner Schmerzen, weiß ich sehr gut und genau, wo meine Grenzen sind. Was ich möchte und was ich definitiv nicht möchte. Sowohl körperlich, als auch psychisch und dafür bin ich sehr sehr dankbar. Denn Sensibilität und Fragilität sind etwas sehr Schönes und definitiv keine Schwächen!“ Was können wir also alle tun, um alltägliche Diskriminierung keinen Halt zu geben und endlich die Barrieren niederzureißen? Ganz klar: Sichtbarkeit, Akzeptanz und vor allem Vollwertigkeit schaffen!


Weitere Infos:

Zu Toms Blog gehts hier.

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