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„Die Lage ist todernst“ – Gisela Horn über Namibia und Covid-19

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Gisela und Andreas Horn zittern um Namibia. Sie haben ihr Leben dem Projekt Kaokoland gewidmet, das in der entlegenen namibischen Region Kaokoveld Brunnen, Schulen und Internate baut und deren Betrieb unterstützt. Mehr als 3500 Kinder sehen sie durch die Coronakrise in großer Gefahr.  

©Andreas Horn

Frau Horn, könnten Sie in Umrissen die soziale und politische Situation in Kaokoveld vor der Coronakrise beschreiben? 

Kaokoveld wird hauptsächlich von den Ovahimba bewohnt, deren Erscheinungsbild von der Nacktheit der Frauen geprägt ist, die sich traditionell mit einer rot-braunen Paste aus Butterfett und eisenoxidhaltiger Erde eincremen; ihr Halsschmuck ist Ersatz für die Oberkörperbekleidung. Dieses Volk pflegt eine sehr archaische Lebensweise, siedelt in Lehmhütten, betreibt im großen Stil Viehzucht und baut Mais für den Eigenbedarf an – in ausreichenden Mengen eine ausgewogene Ernährung für die Ovahimba, früher waren die Ovahimba auch gesunde Menschen. Heute aber kommen die Kinder relativ klein und mit dünnen Beinen zu uns an die Schulen. Der Grund: Fünf Dürrejahre ließen den Viehbestand stark sinken. Darum essen die Ovahimba kaum noch Fleisch und trinken Milch aus dem Tetrapack. Die Kinder leiden unter einer Fehl- und Mangelernährung. Das schwächt ihr Immunsystem.  

Im Winter können die Temperaturen in Namibia auf null Grad sinken. Die Kleidung der Einheimischen schützt nicht vor Kälte und die von uns zur Verfügung gestellten Decken verlieren wegen des Fetts, mit dem sich die Ovahimba einschmieren, ihre Wirkung. 

Außerdem grassieren auch unter den Ovahimba HIV und Tuberkulose und die medizinische Versorgung im Kaokoveld ist unzureichend. Es gibt zwar sogenannte »Health Points«, dort findet aber nur eine Grundversorgung statt. Wer ein ernsteres Problem hat, muss zumindest bis nach Opuwo reisen. Dort befindet sich das nächste Krankenhaus und zwei niedergelassene, private Ärzte. Es gibt nur eine Schotterstraße quer durch Kaokoveld und einige sehr schlecht befahrbare Wege. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es landesweit nicht. Man sollte hier lieber nicht krank werden. 

Das klingt alles sehr beunruhigend und wahrscheinlich war die Unterstützung von 3500 Kindern schon vor der Coronakrise eine große Herausforderung?

Eine sehr große Herausforderung! Und alles beginnt bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Die Regierung stellt den Schulen zwar ein gewisses Kontingent an Lebensmitteln zur Verfügung, aber diese treffen oft nicht pünktlich ein und/oder sind mangelhaft. Außerdem rechnet die Regierung, für eine Tagesschule, mit 210g Maismehl pro Tag für ein Kind. Das entspricht ungefähr 335 kcal. Ein Kind benötigt aber, um gesund heranzuwachsen, mindestens 2500 kcal pro Tag und der Schulweg der Kinder ist teilweise mehrere Kilometer lang – auch für den langen Fußweg brauchen sie entsprechend Kalorien.

Wir vom »Projekt Kaokoland« helfen aus, wenn die staatliche Unterstützung nicht ausreicht. Wir setzen dann Spendengelder ein, um den Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken. Auch unterstützen wir die Schulen mit Kleidern für den Winter und mit Schulsachen. Einzelnen Schülern helfen wir, die High-School oder die Universität zu besuchen. 

Außerdem bauen wir, in Zusammenarbeit mit Fly&Help, neue Schulgebäude, die wir dann an Namibia übergeben. Wir haben immer neue Pläne! 

©Klaus Pümpel

In Hinblick auf die Coronakrise: Wie hat sich Ihr Leben und Ihre Arbeit verändert und was sehen Sie auf sich zukommen? 

Namibia hat einen wochenlangen Shutdown veranlasst. Wegen der beunruhigenden HIV- und Tuberkulosezahlen werden die wenigen Coronainfizierten mit Argusaugen beobachtet. Die Schulen stehen leer und die Kinder werden zu Hause zum Bestellen der Felder eingeteilt. Es ist nicht gut, wenn Eltern die Kinder für sich arbeiten lassen, denn das bedeutet einen Rückschritt in der Ausbildung der Kinder. Bei den Ovahimba hatte Bildung keinen sehr hohen Stellenwert, aber mittlerweile schicken immer mehr Eltern ihre Kinder an die Schulen. Die ausgebildeten Ovahimba kommen zwar alle zurück in ihr Dorf und drängen die Älteren, aus ihrer Lethargie zu erwachen, mehr zu arbeiten und Zukunftsideen zu entwickeln – vor allem im Landwirtschaftsbereich. Die unausgebildeteren Ovahimba lassen aber viel lieber die Kinder weiter für sich arbeiten. 

Ich habe zwei große Sorgen für die kommende Zeit: erstens, dass das Land seine Grenzen zu schnell wieder für Touristen öffnet. Namibia selbst hat nur noch acht Coronainfizierte. Wenn aber Reisegruppen aus stärker betroffenen Ländern eintreffen, steigt die Gefahr, dass das Virus Kaokoveld erreicht. Sollte sich das Virus hier weiter ausbreiten, würde das bei all den Vorerkrankungen, den schlechten Immunsystemen und den fehlenden Krankenhäusern zu einer Katastrophe führen. 

Zweitens ist Namibia zu 95 % wirtschaftlich von Südafrika abhängig. Da Namibia selbst kaum Nahrungsmittel außer Fisch, Fleisch, Milch und Mais produziert, ist das Land von Importen aus dem Nachbarland angewiesen. Die Coronakrise hat da einen Engpass verursacht und momentan leben die Ovahimba von Nahrungsmittelspenden. Vorräte haben sie nicht. Wenn die Handelswege zwischen Südafrika und Namibia dauerhaft einbrechen … ich traue mich diesen Gedanken gar nicht erst zu Ende zu denken. Ich weiß nicht, was dann passieren wird. Die Menschen sind jetzt schon fehl- und mangelernährt.

Welchen Appell haben Sie an die Menschen in Europa und der ganzen Welt?

Man hört ja von den »durch die Coronakrise wiederentdeckten Werten«, wie der Nachbarschaftsliebe und verstärktem nationalen Zusammenhalt. Ich würde mir wünschen, dass die Leute weiter als nur in die unmittelbare Umgebung schauen. Jeder, der die Kinder hier an den Schulen kennenlernen könnte, und ich meine wirklich jeder, würde sie lieben! Sie sind unbefangen, fröhlich, aufgeschlossen und wissbegierig. Und die Kinder sind in unmittelbarer Gefahr. Es wird schon kälter und Kleidung und Nahrungsmittel sind knapp. Die Lage ist todernst und wir brauchen Hilfe aus dem Ausland!


Weitere Informationen

Augenblicklich werden unter dem Projektnamen »Hilfe für Namibia« Spenden gesammelt, um bei der Finanzierung von Winterkleidern für die Kinder zu helfen. Mehr Informationen über Namibia, die Ovahimba und Gisela und Andreas Horns Arbeit finden Sie hier: Projekt Kaokoland.

Vor welchen Herausforderungen der afrikanische Kontinent durch Covid-19 steht, haben wir hier beleuchtet.

Copyright Titelbild: Klaus Pümpel

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