Tyll

Tyll tut#19 – Wandern

//
9 mins read
Start

In dieser Kolumne wird unser Redakteur Tyll Leyh erwachsen. Das ist zumindest der Plan. Er probiert Hobbys, scheitert und liefert dabei Einblicke in sein Seelenleben. Diese Woche findet er endlich einen Grund, auch samstagmorgens aufzustehen: Er geht wandern. 

Wie kann in diesem Jahr die freie Zeit im Sommer überhaupt verbracht werden, ohne covid-shamed zu werden und dennoch den nötigen Abstand zum Alltag zu bekommen? Die Antwort ist natürlich sehr einfach:

Wandern!

Ganz klar, wer in unförmiger Zipp-Hose von den Eltern durch Geröll läuft, bestraft sich schon selbst genug. Wer braucht schon Strand und Meer, wenn Berghochlaufen angesagt ist! Deshalb wandere ich über Stock und Stein, oder ohne Stock über Stein? Naja, eh, den Weg entlang und endlich halten in meinem Leben zwei Tage alpines Abenteuer Einzug. 

Denn die obligatorische Hüttenübernachtung muss für das ganzheitliche Erlebnis auf jeden Fall mit dabei sein, die Route wird online geplant und ist die perfekte Ablenkung von sonstiger Arbeit. Ein Weg hin und den anderen zurück, zum gebührenfreien Parkplatz.

Ich bin ready. 

Schlechter Empfang, zu wenig Verpflegung, dafür ohne Ende Beinfreiheit. Was sich anhört wie eine Fahrt mit der Deutschen Bahn, ist Corona-Trendsport für alle, quengelnde Kinder und rüstige Rentner gleichermaßen inbegriffen. Nicht so cool wie Bergsteigen, nicht so langweilig wie Nordic-Walking, eben genau der gesunde Durchschnitt aus Anspruchslosigkeit und Schauwerten, der mit mittelguter Fitness zu bewältigen ist.

Ein weiterer Grund wandern zu gehen, ist diese Hassliebe zu den Bergen, die mich wahrscheinlich mit vielen anderen aus meiner Generation verbindet. Wie viele andere Kinder auch, musste ich traumatische Wanderungen durch malerisches Land ertragen. Es war zwar schrecklich langweilig und anstrengend, aber ganz losgelassen hat es mich dann doch nicht. Also rede ich mir jetzt plötzlich ein, dass ein aktives Wochenende unser Leben bereichern würde und im Sommer die Berge eh viel cooler sind.

Günstiger sind sie allemal und sieht man von Bildern der selbst geschmierten Brotzeit und Gesichtern mit zu viel Sonnencreme ab, ist Wandern dazu noch perfekt für Social Media. 

Erweckungserlebnisse

Seit Goethe und Schiller und dem langweiligen Deutschunterricht in der 6. Klasse wissen wir alle, wie wichtig Naturerlebnisse sind. Erhaben, fern von Zivilisation, der Mensch alleingestellt auf sich und seine viel zu warmen Wanderstiefel. Wenn ich die nur finden würde. Hätte ich doch mal gestern Abend schon angefangen zu packen. Jetzt habe ich mein erstes Erweckungserlebnis beim Suchen der Schuhe in der Früh. Was brauche ich denn sonst noch, eh die Sachen, die ich sonst nie benutze. Fun Fact nebenbei: Hüttenschlafsack wiegt und nimmt genauso viel Platz weg wie ein normaler. Egal. Auf jeden Fall genügend Wasser mitnehmen oder den Tipp den anderen geben, so dass dann später geschnorrt werden kann. 

Kommt, ruft es von den Bergen!

Dann sind wir da, laufen los und versuchen, nicht an jeder Weggabelung aufs Handy zu schauen, sondern uns einfach leiten zu lassen von guter Laune und Aufbruchsstimmung. Es geht bergauf, manchmal leider wieder etwas bergab und dabei schaut man oft auf den Boden um nicht zu stolpern. So weit so unspektakulär. 

Hin und wieder kommen einem dann lederhäutige, braun gebrannte Rentner entgegen, die wohl wegen Bettflucht noch früher auf den Beinen waren als wir und schon wieder runter laufen. Ich traue mich dann doch nicht, den Dialekt nachzumachen und mit Griaß di Gott, Servus oder so zu antworten und bleibe beim schwer ausgeatmeten Hallo. Denn wer sonst sollte den Helikopter rufen, um uns aus misslicher Hanglage zu befreien?

Recht abwechslungsreich geht es weiter mit Wäldern und Almlandschaften, wobei es mir dann schon ein wenig Angst macht, dass diese finster dreinblickende Kuh uns nun schon seit 10 Minuten verfolgt und dabei immer intensiver mit ihrer Glocke läutet. Was, wenn die auch noch ihre Freunde holt? 

Trittsicherheit

Der Berg wird steiler, die Dialekte schwerer zu verstehen und jaaa ich weiß, dass mein Schnürsenkel auf ist, ich mache den ja gleich zu. Wir laufen und laufen über „anspruchsvolles Gelände“, passieren das Schild, das uns vor alpiner Vorerfahrung warnt oder so ähnlich und sind doch erstaunt, dass solche Wege für jeden der hinkommt erlaubt sind. Wir kämpfen uns entlang von Bächen durch Gestrüpp, im Einklang mit Ameisenhügeln und dem Rest der Natur und nähern uns langsam, stetig dem Gipfel.

Dann das erlösende Schild. 1h Haslerspitz. Bald geschafft. 20 Minuten später auch schon das nächste. 1h Haslerspitz. Nun gut, wir haben uns ja Zeit gelassen. Wieder 20 Minuten später. 1h Haslerspitz. Wollt ihr mich veräppeln? Waren die im Angebot? Dann das vierte Schild. Haslerspitz, keine Zeitangabe. Ist das Mobbing? 

Keine Ahnung, aber wenn mich nochmal ein E-Mountainbike überholt, flippe ich eh aus. 

Wer hätte es gedacht, nachdem ich mich wieder beruhigt habe, geht es weiter bergauf. „Die Höhenluft auf 1800 Metern fühlt sich sehr dünn an“, sage ich und fühle mich dabei sehr kompetent, obwohl es Quatsch ist. Ich verstehe nun eben sehr viel vom richtigen Bergsteigen. Nun gut, das Ziel naht, die Beine schmerzen mehr und mehr, Abenteuer und Zumutung liegen einfach immer wieder nah beieinander. 

Dann die letzten Meter über einen malerischen Bergkamm, auf der einen Seite Wolken, auf der anderen Seite freie Sicht und fröhlich stolpern wir dem Gipfelkreuz entgegen. Gleich geschafft. Zeit für ein Fazit:

Es ist schön da oben, ganz ohne Ironie.  

Reinhold Messner, Heidi und ich haben sich nicht geirrt. Ein Wochenende in den Bergen ist der Ausgleich zum stressigen Großstadtalltag aus Homeoffice und Mittagsschlaf. 

Umgeben von der Natur, im Rucksack nur das Nötigste, habe ich verstanden, worauf es im Leben wirklich ankommt. Naja gut, dass nun auch wieder nicht. Zweites Paar Socken? Keine Ahnung. Derlei grenzüberschreitende Naturerfahrungen werden mir wohl immer etwas zu esoterisch sein und sind auch dieses Wochenende an mir vorübergegangen. Aber kann man schon mal machen. 

Ach so, noch zur Hütte: Mit Lärm, zu wenigen Toiletten und Sperrstunde um 22 Uhr fühlt sich das ganze nach dem nächsten 6. Klasse Flashback an. Wie Schullandheim. Allerdings besteht unsere Rebellion gegen das Zu-frühe-zu-Bett-gehen-müssen inzwischen nur noch aus zwei Minuten Geflüster vorm Einschlafen.

 

Anstrengend kann so viel Freizeit sein! Um dennoch endlich Erholung zu finden, folgt Tyll tut#20 erst in einem Monat.

 

Erfolgserlebnisse: Kippe in leergetrunkene, kleine Schnapsflasche gepackt. Sucht gestillt UND Natur gerettet. 7/10 

Macht fit und belastbar: Das sind wir alles hochgelaufen? 8/10

Fühlt sich nach Arbeit an: Das müssen wir alles wieder runter laufen? 6/10 

Preislich skalierbar: Vielleicht brauche ich doch noch diese Teleskopwanderstöcke. Sind schon suuuper praktisch.. 8/10

Spaß: Ok, ich nehm doch noch den Apfelstrudel mit Sahne.. 7/10

Gesamt: 36/50

Ich weiß auch nicht, wie man das schreibt.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Previous Story

"I didn't know what was going on, I just felt my head hitting the concrete" - Mike Brennan im Interview

Next Story

Eine unmögliche Liebe: "Wo wir stolpern und wo wir fallen" - Rezension