Küchentisch-Gespräche über den Krieg in Ukraine

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In den letzten Wochen hat Gregor Razumovsky, der Vater unserer Redakteurin, als Ukraine-Experte bereits in mehreren Formaten über den Krieg gesprochen. Bei einer Tasse Kaffee beantwortet er ihre offenen Fragen zur derzeitigen Situation, erklärt historische Hintergründe des Krieges und seine Sicht auf mögliche Entwicklungen.

Wie schon so oft sitzen mein Vater und ich an seinem Küchentisch und unterhalten uns. „Möchtest du einen Kaffee?“ fragt er. „Gerne“ antworte ich und schaue aus dem offenen Fenster. Die ersten richtigen Frühlingstage sind endlich da, die Sonne scheint und man hört bis in die Wohnung hinauf, wie belebt es auf der Straße ist. Eigentlich eine schöne Zeit. Aber die Ereignisse der letzten Wochen scheinen doch immer wieder die meisten guten Gefühle zu überschatten. Ich seufze tief. Mein Vater weiß sofort, was mich bedrückt. „Ja, alles sehr schrecklich im Moment, gell? Und es scheint auch nicht besser zu werden.“ – Das scheint es wirklich nicht, denke ich mir.
Der Angriffskrieg in der Ukraine geht nun schon seit über zwei Monaten und Putin scheint auch nicht ablassen zu wollen. Täglich neue Nachrichten, welche in ihrer Grausamkeit eher zu, als abzunehmen scheinen. Mein Vater setzt sich seit Jahrzehnten aufgrund seines familiären Hintergrunds mit der Ukraine auseinander. In letzter Zeit ist er vermehrt als Ukraine-Experte in verschiedensten Medienformaten aufgetreten, um seine Meinung zu den Geschehnissen abzugeben. Ich versuche seit Wochen mehr Durchblick zu bekommen, viele Fragen bleiben trotzdem noch offen für mich. Vielleicht kann er mir ein bisschen weiterhelfen?

Papi, kann ich dich vielleicht etwas fragen? – „Klar, was denn?“ antwortet er:

Wie war eigentlich das historische Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine?

Man muss bei diesem über die Jahrhunderte schwelenden Konflikt, der jetzt zu einem aktiven Krieg geworden ist, in Erinnerung behalten, dass er einen tiefliegenden historischen Hintergrund hat. Dieser liegt darin, dass sich auch Russland als europäische Nation verankert sehen will und deswegen russische Wurzeln braucht, die ein bisschen weiter westlich liegen. Putin versucht das dann zu legitimieren.

Ich verstehe, also das geht schon sehr weit zurück. Und wie waren die Entwicklungen in den letzten Jahrzenten, sagen wir, seit dem Ende der Sowjetunion?

Ab 1991 war die Ukraine unabhängig – dann hatten sie 30 Jahre Zeit, sich zu erholen und eine Demokratie zu entwickeln. Aufgrund ihrer Kultur, ihrer Erinnerungskultur, konnten sie die Demokratie schnell und gut entwickeln – weil sie so ein System schon einmal hatten. Im Hetmanat wurde der Herzog, der „Hetman“ von den Kosaken gewählt. Und diese „Erinnerung“, die in der Kultur, der Mentalität verankert ist, hat massiv dazu beigetragen, dass die Ukrainer*innen von 1991 bis jetzt sehr leicht und schnell ein funktionierendes demokratisches System aufbauen konnten – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in dieser Region. Weil die das nicht hatten. Durch einen Zufall der Geschichte hat sich das in der Ukraine so entwickelt, wahrscheinlich aufgrund des hohen Wertes des Bodens. Dort gab es einfach eine andere Art von Gesellschaftsform als in Russland, das permanent von Armut bedroht war.

Welche Ereignisse haben die Entwicklungen, die wir jetzt beobachten, beeinflusst?

Es gab immer wieder Versuche von Russland, da wieder mithineinzuwirken, welche jedoch immer wieder scheitern: zum Beispiel die Vereinbarung über Atomwaffen 1994. Die Ukraine war eine große Atommacht. 1994 haben sie auf ihre Atomwaffen verzichtet, im Gegenzug bekamen sie die Garantie der Unversehrbarkeit ihrer Grenzen. Die wurde ihnen von Russland, China, den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien ausgesprochen– Teilen des UNO Sicherheitsrat. Jedes dieser ständigen Mitglieder hat damals eine Garantie ausgesprochen, die sie dann 2014, 20 Jahre später verdrängt haben. Das heißt die einen haben gesagt: „Wir geben unsere Atomwaffen auf und wollen dafür, dass man uns garantiert, dass unsere Grenzen bleiben wo sie sind“ und die anderen sagen: „Ja wunderbar, das machen wir.“ Dann geben die ihre Grenzen auf und dann heißt es: „Naja, das war gar nicht so gemeint.“

Dann gab es in den folgenden Jahren einige weitere Veränderungen und die Ukraine wurde immer ein bisschen demokratischer. Aber die eigentliche Veränderung der Gesellschaft in der Ukraine, die kam durch die Menschen. Die sind wieder aufgewacht und haben das mit der Freiheit wieder als selbstverständlich angesehen. Dass es selbstverständlich ist, dass man sagen kann, was man will. Dass es selbstverständlich ist, dass man schreiben kann, was man will. Anders als in Russland. Die Ukraine ist vollkommen anders.“

Und was genau ist dann 2014 passiert, mit dem „Euromaidan“ und der Krimkrise?

Da kommt dann dieser Schlüsselaugenblick 2013. Da hatte die Ukraine mit der europäischen Kommission ein Binnenmarkts-Abkommen ausgehandelt. Nachdem das zwei Jahre verhandelt wurde, kommt Putin im November oder Dezember 2013, knallt ihnen ein fertiges Beitrittsansuchen auf den Tisch, mit dem sie sich in die Eurasische Wirtschaftsunion hätten begeben sollen, die Putin gerade aufbaute. Die Bedingungen in diesem Vertrag gingen ins Lächerliche. Das konnte die Ukraine nicht unterschreiben. Und Janukowitsch, der damalige Präsident, der hat „geeiert“, weil der wusste, dass Putin ihn in der Hand hat. Aber er hat auch gewusst, dass er das politisch nicht überlebt.
Dann hat Janukowitsch die Demonstrant*innen, die dagegen protestierten, niederschlagen lassen. Das ist überhaupt nicht gut angekommen. Das waren am Anfang auch hauptsächlich Student*innen, das kam von der Uni. Das waren ganz junge Menschen. Die wollten zu Europa, die wollten zur EU. Das war ihre Welt, das war das, das ihnen gefallen hat.
Dann hat Janukowitsch die Polizei hart eingreifen lassen. Und dann gab es eine allgemeine Reaktion der Bevölkerung, was auch sehr typisch ist. Als die Leute gesehen haben, wie diese ganzen jungen Menschen auf der Straße sind, hat die Unterstützung durch die Bevölkerung begonnen. Viele haben auch begonnen mitzudemonstrieren. Dann ist es ziemlich eskaliert, da gab es dann auch ziemlich viele Tote auf der Seite der Demonstrant*innen.

Ich erinnere mich noch daran, das damals mitbekommen zu haben. Aber das ist ja doch sehr lange her aus meiner Perspektive, da war ich noch in der Schule… Wie hat das dann damals nochmal geendet?

Damit, dass Janukowitsch nach Russland geflohen ist. Dann gab es eine Wahl, bei der Poroschenko gewählt wurde, die schlecht bzw. zu kurz vorbereitet war. Aber andererseits…Was hätten sie sonst machen sollen? Der Präsident war weg, denn der hatte einfach Angst davor, verhaftet zu werden.

Ein wichtiger Punkt ist aber: Dieser Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat nicht damit angefangen, dass die Ukraine in die NATO wollte. Die Krim und das Donbass-Gebiet wurden von Russland besetzt, ohne dass das Wort „NATO“ auf ukrainischer Seite gefallen ist. Alles was dahingehend jetzt argumentiert wird, ist falsch. Man verlässt sich darauf, dass die „dummen Westler“ das nicht wissen und nicht nachschauen können, was ja meistens funktioniert: Eine starke Behauptung ist besser als ein schwacher Beweis. Die NATO wurde überhaupt erst 2016 thematisiert.

Und wie war der Zusammenhang zwischen den Geschehnissen in Kiew, am Maidan und denen auf der Krim? Das war ja zeitgleich, oder?

Unmittelbar danach. In dem Moment als klar wurde, dass die Ukraine dieses Papier zur eurasischen Wirtschaftsunion nicht akzeptieren wird, war für die Russen klar, dass sie das machen. Das mit der Krim, das lässt sich sogar argumentieren – natürlich nicht das gewaltsame Versetzen der Grenzen, das ist so oder so fasch. Aber das im Donbass war nur eine Gemeinheit billigster Art. Weil Putin persönlich beleidigt war, dass er nicht bekommen hat, was er wollte. Er reagiert gekränkt und dann müssen andere Leute sterben. Allein im Donbass mussten seit 2014 mehrere tausend Menschen sterben.

Viele Ideen im Moment, wie die, dass man den Ukrainer*innen keine Waffen geben sollte, sind absolut widerwärtig. Die kämpfen um ihr Leben. Man sieht ja was die Russen jetzt machen, wenn jemand wehrlos ist wie in Mariupol. Die haben keine Waffen mehr, die werden einfach nur kaputt geschossen. Das ist nichts anderes als ein Massenmord. Das ist keine Kriegsführung, kein militärisches Ziel. Das sind nur Zivilist*innen, die sich verstecken, in Hallen, in Häusern, in Kellern, die systematisch zerbombt werden, weil man damit Terror erzeugen will.
Hier haben wir die Diskussion, dass die ganze Welt darüber nachdenkt, wie man helfen kann, ohne einen 3.Weltkrieg auszulösen. Gleichzeitig kommt dann von Österreich immer die Aussage „Wir haben doch die immer wehrende Neutralität.“ – Als ob das ein moralischer Wert wäre. Als ob es, in dem man es so hochhält, für sich allein genommen einen höheren Wert hätte. Es ist eine Überlebenstaktik gewesen, auf der Grundlage eines Vertrages, den Österreich unterschrieben hat.

Was denkst du will Putin eigentlich überhaupt? Was ist sein Ziel?

Ich denke, dass er selbst gar nicht mehr so genau weiß, was er will. Ich glaube, das Ziel war nur seine Vision, dass Ukrainer*innen seinen Truppen mit Brot, Salz, Blumen und Gesang entgegenkommen und alle glücklich und zufrieden damit sind. Dass sich ein paar ein bisschen wehren werden, aber die werden aus den Ämtern gejagt und dann ist die Ukraine wieder ein Teil von Russland. Dann erlaubt er, dass man noch Ukrainisch spricht und das ist schon alles. Ich denke, er hat das wirklich geglaubt. Dafür spricht dieses idiotische Vorgehen. Dass man Truppen reinschickt, die nicht wissen, was sie dort sollen, die nicht genug Essen und Sprit dabeihaben. Da sehe ich ein Riesenproblem. Putin hat sich etwas zum Ziel gesetzt, das absolut unerreichbar ist.

Ich konnte mir vorstellen, dass die ganze Generalität sich gar nicht vorstellen konnte, dass er wirklich so etwas vorhat und sich deshalb nicht darauf eingestellt hat. Putin hat gedacht, er muss selbst den Feldherren spielen und gibt Befehle aus, die nicht ausführbar sind. Jetzt sterben sehr viele junge Russ*innen, die keine Ahnung haben, was sie da sollen. Denen man erzählt hat, sie sollen dahinfahren, um die Faschisten zu bekämpfen, die „Naziregierung“ abzusetzen und die russisch-sprachige Bevölkerung zu befreien. Und dann kommen sie dorthin und die, die den erbittertsten Widerstand leistet, ist die russisch-sprachige Bevölkerung, weil da sind viele russisch-sprachige Städte betroffen – wie beispielsweise Charkiw.“

Wie ist das in der Ukraine im Allgemeinen? Wie viele sprechen denn da (auch) Russisch?

Das ist sehr durchgemischt, es gibt viele Menschen, die sprechen beides, sauberes Russisch und auch sauberes Ukrainisch, manche sprechen das eine gut, das andere besser. Ich habe auch einige Freund*innen in Wien, die zuhause nur Russisch sprechen, sich aber als Ukrainer*innen sehen und sich für sie einsetzen. Die, die hauptsächlich Ukrainisch sprechen, verständigen sich ganz normal mit denen. Da sagt niemand – „Sprich gefälligst Ukrainisch“. Aber das könnte sich jetzt vielleicht auch ändern.
Vor ein paar Wochen hatte ich ein interessantes Erlebnis. Ich war mit einer russisch-sprachigen Freundin beim Hauptbahnhof, bei den Flüchtlingsankunftstellen, wo wir ausgeholfen haben. Da war eine Frau aus Charkiw, die auf eine Frage auf Ukrainisch geantwortet hat. Meine Freundin meinte – „Tut mir leid, ich kann kein Ukrainisch, nur Russisch“. Die Frau aus Charkiw meinte: „Ich habe bis gestern so gut wie nur Russisch gesprochen und ich spreche es nie wieder.“ Das ist auch eine Entwicklung. Das ist der Schlussstrich. Egal wie der Krieg jetzt ausgeht, Putin hat eine Sache geschafft, die bisher noch nie jemand geschafft hat: Putin hat die ukrainische Nation zusammengeschmiedet in einer Weise, die man sich gar nicht vorstellen kann. Die waren noch nie in ihrer Geschichte so geeint, unvorstellbar.

Es wird bei vielen Dingen erst jetzt bewusst, was eigentlich alles aus der Ukraine kommt und wie nah dieses Land ist. Also beispielsweise, dass die Ukraine aufgrund ihres Bodens so relevant ist. Wo man jetzt vermehrt hört, dass der Weizen knapp werden könnte.

Was den Boden angeht und auch den Weizen wäre zunächst einmal anzumerken, dass die EU selbst-suffizient ist, also wir haben genug zum Überleben. Aber es sind sehr viele Regionen auf der Welt auf das Getreide in der Ukraine und das Getreide aus Russland angewiesen. Die Russen haben jetzt ein Embargo verhängt, um die Welt zu bestrafen, aber blöderweise trifft es wieder nicht die, die es eigentlich treffen soll. Da werden viele Leute Hunger leiden müssen, vor allem in der dritten Welt, weil die vom Getreide aus der Ukraine und Russland abhängig sind.

Mit Blick auf Putins Pläne zeigt sich, dass es keinen einzigen Plan gibt, der in eine konstruktive Richtung geht. Es geht nur um Zerstörung von Menschen, Leben, Strukturen und Existenzen. Es hat niemand irgendwas davon. Russland selbst hat davon gar nichts und die versinken immer mehr in der totalen Diktatur. Es gibt keine Freiheiten mehr.
Was hat der Mann davon? Der hat dieses Land jetzt zwei Jahrzehnte lang regiert, er hat es finanziell auf den Boden runtergebracht. Er kann nicht mal mehr die Pensionen bezahlen, die sind seit vielen Jahren nicht mehr an die Inflation angepasst worden. Es ist im Allgemeinen eine grauenvolle Situation. Ich glaube der Mann ist einfach böse, wirklich böse. Man glaubt immer, das gibt es nicht… aber gibt es offensichtlich schon.

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