no war

Auf der Suche nach Worten

6 mins read
Start

Es ist bald ein Monat her, seit Putins Angriffskrieg in der Ukraine die Dinge ins Wanken brachte: das Vertrauen in den Frieden, die Überlegenheit westlicher Ideale, den Glauben an Demokratie und Freiheit. Millionen Ukrainer*innen fliehen vor den Bomben und der Gewalt. Für uns wird der Krieg zu einem rot leuchtenden Punkt im Liveticker, in dem jeder Schrecken eine eigene Meldung bekommt. Der Krieg wird zum Spektakel im Internet, wir schauen weiter zu, wir wechseln den Sender, der Krieg geht weiter, wir hören von neuen Kriegsverbrechen im Mittagsjournal, wir drehen Fernseher und Radio ab, der Krieg geht weiter, wir fotografieren unsere frischen Tulpensträuße, der Krieg geht weiter, wir kochen ein Abendessen und sehen Videos, in denen Bomben einschlagen, in die gleichen Küchen, in die gleichen Wohnzimmer.

Und heute tauschen wir die gelben Blumen gegen weiße, obwohl es noch keinen Frieden gibt, wahrscheinlich lange keinen mehr geben wird. Wir suchen immer noch nach Worten und Geschichten und schweigen weiter. Wir suchen Zerstreuung im Schönen, während das hässliche Morden weitergeht. Wir versuchen zu verstehen und begegnen überall nur Fassungslosigkeit. Die Solidaritätsbekundungen werden langsam aber stetig leiser, wir wollen weiterziehen, während ein und dasselbe Wort für die Vertriebenen aus der Ukraine bedeutet, alles zu verlieren. Wir versuchen uns an einer Menschlichkeit, die mehr beinhaltet als das leere Versprechen eines inflationär verwendeten Begriffes. Wir schauen weg, weil wir immer schon gut darin waren zu ignorieren. Wir schauen hin, wir halten die Kamera auf das Leid und wollen es einfangen, ohne zu wissen, was aus der Beobachtung entstehen soll. Wir bitten beim Abendessen darum, das Gesprächsthema zu wechseln, weil sich Krieg mit dem Glas Wein nicht verträgt.

Rohe Gewalt kann nur mit Waffen, nicht mit Idealen beantwortet werden, hörte man oft dieser Tage. Diese Erkenntnis ist bitter und trifft einen wunden Punkt in der Utopie des europäischen Friedensprojekts. Doch der Gedanke ist nur zum Teil richtig. Denn gerade jetzt braucht es auch ein bedingungsloses Bekenntnis zu dem, woraus man die Europäische Union ursprünglich geformt hat. Zu oft waren wir in den letzten Jahren kurz davor, den Glauben an Europa zu verlieren. Anstelle humanistischer Werte setzten sich Gier, Neoliberalismus und Menschenverachtung durch. Die Union war zerrissen und scheiterte einmal zu oft an sich selbst. Diese Konflikte haben sich durch die neue Einigkeit nicht in Luft aufgelöst. Immer noch werden europäische Nationen von Rechtspopulisten regiert, rechtsstaatliche Prinzipien nicht gewahrt und immer noch muss sich Europa für Moria verantworten. Doch wenn die Werte eines freien und demokratischen Europas unter Beschuss stehen, ist es nichts weniger als unsere Pflicht, für eben jene auch einzustehen. Wenn wir die Fernseher abdrehen, dürfen wir die ukrainische Bevölkerung nicht vergessen. Es wird eine Zeit geben, in der unser Schock abklingt und wir das Leid, das Putin in der Ukraine verursacht, vergessen wollen. Das dürfen wir nicht zulassen. Vielmehr wird es darum gehen, das Vertrauen in Demokratie und Frieden zu stärken und überall und zu jeder Zeit Menschenrechte, Pressefreiheit und Humanismus zu verteidigen.

Wir schulden es den Ukrainer*innen, sie als Europäer*innen zu empfangen und ihnen ein lebenswertes und von Menschlichkeit getragenes Leben zu ermöglichen. Wir müssen wieder lernen zuzuhören und dort zu helfen, wo es unserer Hilfe bedarf. Die europäische Idee kann nur lebendig bleiben, wenn wir wissen, wozu es sie braucht. Dass in Wien Menschen mit Russlandflaggen auf die Straße gehen, um ihre Unterstützung eines menschenverachtenden Krieges zu demonstrieren, ist mehr als verstörend. Doch die Utopie einer friedlichen, progressiven und freien Welt ist größer. Zynismus bringt uns nicht weiter, Resignation ebenso wenig. Wir haben Privilegien, deren Ausmaß seit dem 24. Februar noch deutlicher geworden ist. Wir stehen vor der Wahl, diese Privilegien einfach für uns arbeiten zu lassen und das Leben in einem freien, friedlichen Land tatenlos zu genießen oder aber sie zu nützen, um daraus Träume, Ideen und Werte zu entwickeln, die sich nicht einmal mit Waffengewalt in Frage stellen lassen.

Es ist bald ein Monat her, seit der Krieg aufs Neue in Europa angekommen ist. Seit wir uns jeden Tag vorsichtig im Dazwischen bewegen: zwischen Schweigen und Stellungbeziehen, zwischen Betroffenheit und Ablenkung, zwischen Erinnern und Vergessenwollen, zwischen Solidarität und Scheinnormalität. Es ist pures, unlogisches Glück, dass wir überhaupt die Möglichkeit zu diesen Abwägungen haben. Für die Menschen, die vor der Kriegsgewalt fliehen, die keinen Weg aus der Ukraine finden, die dort ihr Leben lassen, gibt es keine Wahl. Sie finden nur Zerstörung, Gewalt und Trauer. Gerade deshalb müssen wir beweisen, dass es eine Alternative zu blindem Hass, zu propagandistischen Lügen, zu Diktatur und Waffen gibt: einen Ort, der Sicherheit bietet, der hilft und an dem Solidarität nicht nur ein Schlagwort, sondern die Basis aller Ideen ist.


Spenden für die Ukraine

Volkshilfe

Nachbar in Not

Caritas

Titelbild: (c) Etienne Girardet/unsplash.com

2 Comments

  1. Liebe Lea. Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel, der die bittere Wahrheit spricht und doch so viel Hoffnung gibt. Ja, es sind die Utopien, die wichtig sind, die wir brauchen, um nicht zu verzweifeln. Wie viel Wertvolles, das wir heute als selbstverständlich nehmen können, war einmal Utopie. …und die unglaubliche Solidarität so vieler Menschen in unserem Land macht mich ausnahmsweise wieder einmal stolz Österreicherin zu sein. 🙂

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Previous Story

"Was, wenn wir einfach die Welt retten?" - Geht das noch, Frank Schätzing?

Reisepass Russland
Next Story

"Ich träume von der Schönheit Jerewans" - junge Menschen verlassen Russland