Chile ist das Graz von Südamerika

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Am Anfang bis zum Ende waren es immer die Straßen, die den Ton angaben. Tausende, die seit Jahren wieder und wieder auf ihnen protestierten, um für ein neues Chile zu kämpfen, kehrten darauf zurück. Bis tief in die Nacht feierten sie und schrien ihre Freude in den chilenischen Nachthimmel. Feuerwerke, Gesänge, wehende Fahnen. Menschen, die auf Ampeln stehen oder auf den Schultern ihrer Freund:innen sitzen. Szenen, die eher an die Jubeltrauben nach einem gewonnenen Weltmeisterschaftsspiel erinnern, als an eine entschiedene Präsidentschaftswahl. Doch die Erleichterung nach dem Ende ist treffend ähnlich.

Seit zehn Jahren führt der Sozialist Gabriel Boric die Studierenden- und Protestbewegungen im südamerikanischen Land an. Seit der Stichwahl am 19. Dezember ist es nun endgültig klar. Der gemeinsame Weg führt sie nun in die Moneda, den Präsidentensitz in der Hauptstadt Chiles. Der linke Kommunist Gabriel Boric, mit seinem in südamerikanischen untypischen Familiennamen, stammt aus der Punta Arenas. Die Familie, dessen Wurzeln aus dem Habsburgerreich stammen, siedelte als eine von zehn kroatischen Familien hundert Jahre vor seiner Geburt in diese Region über. Boric politische Karriere begann als Schüler:innenvertreter. Jahre später schloss er sich der linken Studierendenbewegung Izquierda Autónoma an. 2011 wurde er zum Präsidenten der chilenischen Studierendenvertretung gewählt. Dabei sah er sich immer mehr in der Rolle des Aktivisten als der eines Politikers. Ab März 2022 bekleidet er nun das höchste Amt im chilenischen Staat und wird somit mit 35 Jahren der jüngste Präsident in der Geschichte Chiles und Südamerikas.

Raus aus den Kinderschuhen

Ein äußerst junges Alter für das Präsidentenamt, worauf Borics Gegenseite in Regelmäßigkeit pedantisch verwies. Nach dem Capitano Reggente von San Marino wird er nun der zweitjüngste amtierende Staatschef der Welt. Aber mit dem Amt kommt auch der Verstand. Schon im Wahlkampf, auch um Wähler:innen aus der gesellschaftlichen Mitte zu gewinnen, präsentierte sich Boric gemäßigter. Das einstige Traumgesicht für jedes revolutionäre Konterfei mit kantiger Brille, Vollbart und langen Haaren ist passé. Einem möglichen Präsidenten würdig änderte er sein Image und trat mit kürzeren Haaren und gestutztem Bart auf. Sein Look wie seine Politik gen Ende auf moderatere Positionen getrimmt.

Ein linker Silberstreif am südamerikanischen Horizont

Nach der ersten Wahlrunde lag sein Antagonist José António Kast, der die Nachfolge von Amtsinhaber Sebastián Piñera antreten wollte, hauchdünn vor ihm. Bei der Stichwahl lag Boric dann überraschend mit doch deutlichen 11 Prozent Abstand vor seinem ultrakonservativen Kontrahenten. Während Kast, der Sohn eines aus Bayern stammenden deutschen Wehrmachtsoffizier und Nazi, immer wieder Überfremdungsängste aufgrund der Migration aus den ärmlichen nördlichen Ländern schürte, setzte Boric weiterhin auf sein schärfstes Schwert: die soziale Gerechtigkeit. Er wolle das Land mit seiner unterschiedlichen Bevölkerungsstruktur rund um das indigene Volk der Mapuchen vereinen und Armut und Ungleichheit bekämpfen. Mit der Wahl verliert Boric seine Unschuld und muss Versprechungen, Erwartungen mit der Realität in Einklang bringen. Nun liegt es an der Millennial-Generation, deren Kopf er ist, eine Gegenprogrammatik zu den Bolzonaros (Brasilien) und Duques (Kolumbien) zu entwerfen. Einen andauernden Dominoeffekt, indem Südamerika weiter nach rechts rückt, gelang ihm aber erst mal zu verhindern.

Ein Blick in die Glaskugel

Inwieweit Borics Sieg ein Wink mit dem politischen Zaunpfahl für kommende Wahlen in Südamerika ist, wird sich zeigen. Richtungsweisend ist sie aber allemal. Schon im nächsten Jahr hat Brasilien die Wahl zwischen demokratischen Rechtsstaat und Faschismus. In Chile setzte sich diesmal die junge Generation mit ihren linken Werten gegen die meist älteren Erzkonservativen durch.Eine Zeitwende könnte anbrechen. Vergangene Tage, in denen Wahlen aus der Mitte entschieden werden, sind vorbei. Wähler:innen der Mitte müssen sich für eine einschlägige Richtung entscheiden. Volksparteien spielen keine Rolle mehr. Zwei entgegengesetzte Pole treffen aufeinander. Mit knapper Mehrheit für die einen oder für die anderen. Ein Münzwurf zwischen zwei Extremen.

 

Titelbild: © Cristian Castillo / Unsplash

 

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