Tisch mit Lampe und Büchern

Was Kant eines Tages aus dem Konzept brachte – Über Fiktion und Philosophie

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Das Leben schreibt Geschichten, Tag und Nacht. Seit jeher wurden diese Geschichten weitergetragen, zunächst mündlich, später schriftlich. Literatur erzählt von der Welt und ihren Ausformungen. Welche Bedeutung haben diese Fiktionen für die Fakten unseres Lebens?

Wer den Namen Immanuel Kant hört, denkt vielleicht an komplizierte Texte, an die Spaziergänge, die er regelmäßig unternahm, an Königsberg, das er nahezu nie verließ. Welche Faszination des Philosophen jedoch kaum bekannt ist: Jean-Jacques Rousseau und „die Schönheit seiner Prosa“. Sie gehört neben der Französischen Revolution zu den zwei Dingen, die Kant davon abgehalten haben, seinem täglichen Spaziergang nachzugehen. Der berühmte Denker war fasziniert, er war berührt. Von Literatur.

Rousseau war grundsätzlich ein wichtiger Philosoph in Kants Leben, seine aufklärerischen Texte dienten ihm häufig als Grundlage, das Menschenbild spiegelt sich bei Kant wieder. Die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman schreibt:

Er habe Rousseaus Sätze mehrmals lesen müssen, um sie zu verstehen, so tief habe ihn die Schönheit seiner Prosa berührt.

Aus dieser Erfahrung sind neue philosophische Gedanken entstanden. Dass Literatur und Philosophie sich in einem Text wechselseitig beeinflussen, geschieht nicht nur bei Rousseau, auch bei Platon wechseln sich Fiktionsgedanken und Argumentation ab. Denn, so betont Neiman, Wissenschaft und Kunst haben eine gemeinsame Basis: Es ist mehr möglich als wirklich.

Schafft Literatur Wahrheit, bildet sie die Wirklichkeit ab? In seiner Politeia kritisiert Platon die Dichtung. Sie bleibe mimetisch, also nachahmend. Die Kunst sei sogar eine Mimesis zweiten Grades, da auch jeder Gegenstand nur Nachahmung sei und niemals Grundidee. Seine Prämisse dabei ist, dass der Künstler nicht in der Lage ist, den Gegenstand an sich zu schaffen. Emotionen als hervorgerufene Konsequenz der Kunst verzerren und lassen die Vernunft außer Acht. Seine Mythen sind für ihn keine Dichtkunst, sondern eine andere Art zu philosophieren. Dadurch, dass sie im innersten Kern wahr sind, führen sie zur Wahrheit.

Aristoteles hingegen geht von ganz anderen Voraussetzungen aus: Der Dichter ahmt nicht nach, weil er die Wirklichkeit gar nicht wiedergibt. Die Wahrheit, die er schafft, besteht darin, Handlungsmöglichkeiten zu erzählen – dadurch entsteht philosophischer Gehalt.

Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit (einfach) wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondern etwas so (darzustellen), wie es gemäß (innerer) Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d.h., was (als eine Handlung eines bestimmenden Charakters) möglich ist. […] Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung.

Jeder noch so kleine Aspekt in Gedichten oder Erzählungen kann zeigen, was Menschsein bedeutet und was es heißt, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Literatur bleibt exemplarische Untersuchung, sie hilft zu verstehen.

Durch das Schlüsselloch eines Lebens nennt Schriftsteller Joachim Ringelnatz eine seiner Erzählungen. Die so betitelte Geschichte ist ein kleiner Einblick in ein vollständiges Menschenleben, ein kleiner Teil der Geschichte eines Menschen und damit gleichzeitig ein winziger Teil der gesamten Menschheit, der Welt.

Welchen Nutzen, welche Funktion aber kann Literatur haben, wenn sie immer Fiktion ist? Wie kann sie als Fiktion Wirklichkeit abbilden?

Die Antwort liegt in der Philosophie selbst: Wie für Begriffe, für Definitionen Maßstäbe gebraucht werden, die als gesetzt hingenommen werden, so kann auch Literatur ein Maßstab sein, ein Maßstab für abstrakte Dinge. Was Leid bedeutet, was Liebe bedeutet, all diese Dinge können nicht sachlich gefasst werden. Wer aber danach fragt, der kann die Antwort in einer Geschichte erfahren. Romeo und Julia als Repräsentanten für bedingungslose Liebe – keine Definition könnte das so in Worte fassen, wie das Gefühl, das William Shakespeare vermittelt.

Schon seit der Antike steckt ein Reichtum in den Überlegungen und Fragestellungen über das Menschsein. Nachdenken über das Leben, seine vielen Facetten und eine Fülle von Fragen sind von maximaler Bedeutsamkeit in der Philosophie. Dazu leistet Literatur einen Beitrag. Sie ermuntert zum genauen Hinsehen, zum Wachsambleiben, zum Inbesitznehmen, zum Gewahrwerden.


Weitere Informationen

Aristoteles: Poetik. Band 5, in: Flashar, Hellmut (Hrsg.): Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Berlin 2008.

Neiman, Susan: Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung, München 2015.

Ringelnatz, Joachim: Durch das Schlüsselloch eines Lebens, in: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 4: Erzählungen, Zürich 1994, S. 39-46.

Platon: Politeia. Griechisch und Deutsch. Sämtliche Werke V, in: Hülser, Karlheinz (Hrsg.): Platon. Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und Deutsch, Frankfurt am Main 1991.

Titelbild (c): Jez Timms via unsplash.com

Schreibt, seit sie sich erinnern kann. Stationen in Leipzig und Kopenhagen (Philosophie, Kultur und Film). Literaturwissenschaftlerin.

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